Traumhaft

Und plötzlich fand ich mich in einem Selbsthilfezentrum wieder. »Abkürzungsopfer« stand an der ersten Tür. Ich sah mich in der Runde um. Gerade erklärte ein kleiner Mann mit wirrem Haar, dass er »Ernst Theodor Amadeus« und nicht »E. T. A.« genannt werden wolle, und die übrigen Anwesenden nickten verständnisvoll. Hier trafen sich also Künstler, die nicht mit ihrem vollen Namen in die Geschichte eingegangen waren. Schräg gegenüber erkannte ich CPE Bach – offensichtlich war er hier, weil er lieber als »Carl Philipp Emanuel« in Erinnerung bleiben wollte. Verstohlen verließ ich den Raum.

Nebenan tagte die Selbsthilfegruppe der Komponisten, deren Jubiläumsjahre mit denen noch berühmterer Komponisten zusammenfielen. Schostakowitsch war da, der das Pech hatte, 150 Jahre nach Mozart Geburtstag zu feiern, und natürlich Domenico Scarlatti. Benjamin Britten stellte sich vor und seufzte: »Wagner und Verdi«, worauf betretene Stille eintrat. Nur ein dicklicher Herr hustete – oder lachte er? Mir jedenfalls blieb fast das Herz stehen, als ich ihn ansah: Es war CPE Bach, 150 Jahre vor Richard Strauss geboren. Aber wie konnte er gleichzeitig in zwei Räumen sein? Verwirrt lief ich erneut in den Flur.

An der nächsten Tür hing noch ein Zettel: »Nicht immer nur der Verwandte von xxx!« stand dort, daneben hatte jemand ein wütendes Männchen gemalt. Ich schaute nervös durchs Schlüsselloch und stellte fest, dass CPE auch in diesem Raum saß, zwischen Michael Haydn und Fanny Mendelssohn Bartholdy. Was für ein gespenstisches Selbsthilfezentrum!

Ich rannte zum Ausgang, wo mir niemand anders als CPE die Tür aufhielt. »Herr Bach«, stammelte ich, »wie, ich meine, was …?« Er lächelte überraschend charmant und zeigte mir eine Tüte mit Noten. »Meine Sonaten gehen hier ab wie warme Semmeln! Sie sind gut gegen Selbstmitleid, probieren Sie’s mal aus.« Und er zwinkerte mir zu und verschwand.


© Ann-Christine Mecke 2022 | erschienen im Gewandhausmagazin 115 (Juni 2022)

Beitragsbild: Gert M