Pech
Als ich gestern meinen Augen befahl: „Schlummert ein, ihr matten Augen“, schlief ich erstmal überhaupt nicht, sondern dachte Folgendes:
Wenn ich genau eine Reise mit einer Zeitmaschine frei hätte, würde ich nach Leipzig reisen, an einen Sonntag zwischen 1723 und 1750. Ich würde zu gern einmal hören, wie so eine Kantate bei Bach selbst geklungen hat. So gerne würde ich das hören, dass ich diese Reise auch dann ohne zu zögern machen würde, wenn klar wäre, dass ich bei der Rückreise beispielsweise ein Bein verlieren würde.
Aber wie das Leben so spielt, würde ich sicher ausgerechnet den Tag mit dem einzigen, natürlich völlig undokumentierten Betriebsausflug der Thomaskirche erwischen. An der Tür ein Zettel: „Heute kein Gottesdienst wegen Betriebsausflug, gehen sie in die Nikolaikirche“. In der Nikolaikirche wäre ausnahmsweise der Donkosakenchor zu Gast, und die Donkosaken würden meine Tränen der Wirkung ihrer Musik zuschreiben. Gegen Abend würde ich dann in der Ferne eine Gruppe angetrunkener Menschen sehen, die von einem feuchtfröhlichen Ausflug in die sächsische Schweiz kämen. Ein dicklicher Mann würde ein fröhliches Lied über das Kaffeetrinken singen; in der Dämmerung wäre zu erkennen, wie er schwankend mit seinem Spazierstock wedelt, an dem eine Fahrradklingel befestigt wäre. Aber bevor ich herausfinden könnte, ob es sich dabei um Bach handelt, ginge meine Zeitmaschine.
Auf der Rückreise würde ich dann wie vereinbart ein Bein verlieren; die internationale Bachforschung würde schulterzuckend die Sache mit dem Betriebsausflug notieren; ein Institut für Donkosakenforschung würde mich einmal auf eine Wolgakreuzfahrt einladen, aber schnell das Interesse verlieren, weil ich nur erzählen könnte, dass die Donkosaken auch schon im 18. Jahrhundert so klangen wie die Donkosaken.
Und dann müsste ich den Rest meines Lebens auf einer Prothese herumhumpeln, und jeder, den ich kennenlerne, würde irgendwann fragen, was denn mit meinem Bein passiert sei, und dann müsste ich immer wieder von dem Betriebsauflug und den Donkosaken erzählen, und immer wieder müsste ich diskutieren, wann und wo die Fahrradklingel erfunden wurde und ob ich vielleicht spinne.
© Ann-Christine Mecke 2008 | erschienen im Gewandhausmagazin 59 (Juni 2008)