Rezeptpflichtig

»Es war doch unverantwortlich!« – Wenn Gregor Henke, Sprecher des Musikothekerverbands, an die Zeit denkt, als Musikaufnahmen noch in sogenannten Plattenläden frei zugänglich waren, graust es ihm: »Wir wussten doch, welche Macht das Zeug hat! In großen Bahnhöfen liefen Haydn-Sinfonien, um Drogensüchtige zu vertreiben; Säuglinge wurden mit Mozart beschallt, damit ihre Gehirnleistung sich verbessert. Dabei waren die Langzeitwirkungen auf Kindergehirne noch gar nicht erforscht! Auch in der Literatur gab es deutliche Warnungen. Was mit dem kleinen Hanno Buddenbrook passiert ist, gehörte zur Allgemeinbildung. Und es gab sogar Hinweise darauf, dass Gustav von Aschenbach gar nicht an Cholera starb, sondern nach langem Leiden an Mahlers Fünfter.«

Erst 2027, 150 Jahre nach dem Tod von Hanno Buddenbrook, zog der Gesetzgeber Konsequenzen und führte die Musikothekenpflicht für sämtliche Musikaufnahmen ein. »Eine Bach-Kantate kann nicht nur Freude bereiten, sondern auch viele Beschwerden lindern«, meint Henke, »aber um Wechselwirkungen auszuschließen, ist fachkundige Beratung notwendig. Außerdem sollten bei der Aufzeichnung gewisse Qualitätsstandards kontrolliert werden. Fehlende Dacapos oder falsche Tempi können zu erheblichen Nebenwirkungen führen!«

Einzelne Werke von Schubert und Schostakowitsch wurden sofort nach der Gesetzesnovelle rezeptpflichtig, später wurde die Liste bedeutend erweitert. Pink Floyd, Wagner und Mahler fallen seitdem sogar unter das Betäubungsmittelgesetz. Probleme mit dem Schwarzmarkt gibt es allerdings immer noch, räumt Henke ein: »Die Dealer gehen immer geschickter vor, und oft haben die Käufer kein Unrechtsbewusstsein. Aber«, lächelt der Experte, »wer einmal an gestreckten Beethoven geraten ist, weiß die Zuverlässigkeit der Musikotheken wieder zu schätzen.«


© Ann-Christine Mecke 2014 | erschienen im Gewandhausmagazin 83 (September 2014)