Kein WC, nirgends
Wie ein schwarzer Monolith erhebt sich das neue Konzerthaus von Rüttelburg in den Nachthimmel. Ein Eingang ist von der Ferne nicht auszumachen. Das ist Absicht, wie der leitende Architekt Korbinian Cantor erläutert: »Öffnung, Transparenz, Zugänglichkeit, das war so eine Mode. Wir bei ›Patrik & Cantor‹ haben auch zwei Konzerthäuser in diesem Stil gebaut, aber am Ende kam uns das doch verlogen vor, weil drinnen immer
noch die gleiche komplizierte Musik gespielt wurde. Das ist doch architektonischer Etikettenschwindel mit den Glastüren und einladenden Foyers!«
Der neue Patrik & Cantor-Bau macht die Unzugänglichkeit deshalb zum Prinzip: Nähert man sich dem Gebäude, gerät man zunächst in ein Labyrinth aus dunklen Gängen und Treppen, bis man eine kleine, aber erstaunlich schwere Eingangstür erreicht. Die Kraft von mindestens zwei Personen ist notwendig, um sie zu öffnen. »Das symbolisiert das Gemeinschaftserlebnis des Konzerts«, erklärt Cantor. Symbolisch ist auch die ungewöhnlich hohe Türschwelle – ein ironischer Hinweis auf die berüchtigte »Schwellenangst«.
Drinnen wird ein weiterer großer Vorzug des Gebäudes deutlich: Die massiven Außenwände des fensterlosen Baus verschlucken jeden Sinneseindruck der Außenwelt und erlauben damit die vollständige Konzentration auf die Musik. Auffällig ist außerdem die extrem hohe Bühne, vom Architekturbüro scherzhaft »Anbetungsplateau« genannt, welche die Aufmerksamkeit vom optischen zum akustischen Eindruck verlagert.
Klanglich macht der Konzertsaal selbstverständlich keine Kompromisse und begeistert Künstler, Publikum und Kritik gleichermaßen. Akustische Gründe waren auch für den Verzicht auf Publikumstoiletten ausschlaggebend – die kleinen Räume hätten ungünstige Resonanzen erzeugt. Außerdem, so Architekt Cantor, sei Bruckners Achte nun mal nicht für Leute mit schwacher Blase gemacht.
© Ann-Christine Mecke 2021 | erschienen im Gewandhausmagazin 111 (Juni 2021)
Beitragsbild: Gert Mothes