Etwas unheimlich
Sie ist etwas unheimlich, die Musikerfamilie. Schon während der Schwangerschaft behauptet die Musikermutter, sie könne an den Bewegungen des ungeborenen Musikerkindes erkennen, ob ihm später ein hohes oder ein tiefes Instrument besser liegen werde. Kaum kann das kleine Musikerkind sitzen, sitzt es zu Füßen der übenden Musikereltern und lauscht.
Wenn es einen Wachsstift mit der Faust umfassen kann, ist es Zeit, ihm ein Instrument in die Hand zu geben. Der Musikervater hat eine Musikerkollegin als Lehrerin organisiert. Er hört den Unterrichtsstunden von der Küche aus zu. Im Kindergarten spielt das Musikerkind oft allein im Sandkasten und singt dabei die Themen berühmter Streichquartette. Die Musikereltern aber kommen nicht zum Elternabend, um dieses Problem zu besprechen, sie haben wie so oft »Konzert«. Das ist der Kindergärtnerin etwas unheimlich.
Auch das Musikerkind hat bald Konzert. Während seine Schulklasse geschlossen zu »Karneval der Tiere« geht, spielt das Musikerkind ganz allein Schostakowitsch bei »Jugend musiziert«. Es sieht ernst und blass aus dabei. Seine Klassenkameraden finden es etwas unheimlich.
Abends sitzen weltberühmte Künstler bei der Musikerfamilie. Die Wangen glühen, der Rotwein fließt, und um Mitternacht wird aufgespielt, bis die Nachbarn sich beschweren. Das Musikerkind darf die Noten umblättern. Mit 13 hat das Musikerkind keine Lust mehr auf sein Instrument. Es übt weniger, und in einem Streit mit den Musikereltern geht sogar ein Notenheft kaputt. Aber es hört nicht auf zu spielen. Im Gegenteil: Es übt bald wieder mehr, erspielt sich erst ein sehr teures Instrument und dann einen Studienplatz in einer weit entfernten Stadt. Den Musikereltern ist das etwas unheimlich. Beklommen sehen sie dem Musikerkind nach, wie es mit seinem Instrument in den Sonnenuntergang verschwindet. Wird auch aus ihm einmal ein Musikervater oder eine Musikermutter werden?
© Ann-Christine Mecke 2022 | erschienen im Gewandhausmagazin 115 (Juni 2022)
Beitragsbild: Gert M