Morgens um vier auf dem Berggipfel
Zuhörer, die sich zwischen den Instrumentengruppen bewegen, die auf Sitzsäcken herumlümmeln und Bier trinken oder über das Programm abstimmen. Ensembles in verschiedenen Zimmern, durch die das Publikum wandert. Lichteffekte und Videoinstallationen zu Streichquartetten, ein Publikum auf Gymnastikmatten oder Musik im Dunkeln: Es ist einiges in Bewegung geraten in den Konzertsälen dieser Welt. »Ungewöhnliche Konzertformen« erobern die Spielpläne vor allem von Festivals. Und: von wegen Konzertsäle! Parkhäuser, Berggipfel und Minigolfplätze können die neuen Spielorte für klassische Musik sein.
Geht es denn nur noch um das Drumherum? Im Gegenteil, sagen die Gestalter solcher Konzerte. »Es geht ausschließlich darum, die Wirkung der Musik so intensiv wie möglich erfahrbar zu machen«, schreibt zum Beispiel Folkert Uhde, der wohl berühmteste »Konzertgestalter«, um hier erst einmal eine unbelastete Bezeichnung zu wählen. Und um die intensivste Wirkung der Musik zu erreichen, gestaltet man nicht nur die Musik selbst, sondern auch die Hörbedingungen. Den Veranstaltern allerdings geht es nicht nur um das das intensive Musikerlebnis. Sie sind auch auf der Suche nach einem neuen Publikum, denn das alte ist oft genau das: ziemlich alt. Und es ist nur ein bestimmtes Milieu, das ins Konzert kommt, obwohl das Kulturleben doch von allen finanziert wird.
Nur wenn sie kommen …
Der Konzertsaal mit festen (meist zu engen) Sitzreihen, der Applaus beim Auftritt und nach den Werken (nicht aber zwischen den Sätzen!), die feierliche Kleidung auf dem Podium und im Publikum, die starre Rollenverteilung zwischen Solisten, Dirigent, Orchestermusiker und Zuschauern – all das kann auf potenzielle Besucher abschreckend wirken. Schon architektonisch stellen viele Konzertsäle die Musik auf einen Sockel der Anbetung, die Musiker werden buchstäblich unnahbar. Die Form des klassischen Sinfonie- oder Kammerkonzerts bildete sich unter bestimmten historischen Bedingungen für eine spezifische Gesellschaft heraus. Wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern, müssen sich vielleicht auch die Hörbedingungen in Konzerten ändern. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin hat mit seinen »Casual Concerts« eine entsprechende Konzertreihe etabliert: Kürzer, preiswerter und später am Abend sind diese Konzerte, die Kleidung soll leger sein, der Dirigent des Abends moderiert das Konzert, und im Anschluss gibt es ein Lounge-Programm mit DJ. Solisten des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz suchen ihr neues Publikum im Rahmen von WG-Konzerten zu Hause auf. Und die in Berlin ansässige Lautten-Compagney verbindet in ihrer »Barocklounge« regelmäßig alte und elektronische Musik, das Publikum darf dabei trinken und sich unterhalten. Gerade mit Hilfe der Vermischung verschiedener Musikstile kann man auch erreichen, dass das Publikum beider Musikrichtungen sich vermischt. Manchmal geht es allerdings nicht nur darum, ein anderes, sondern überhaupt ein Publikum zu finden, berichtet Wolfgang Katschner, der künstlerische Leiter der Lautten-Compagney: »Zu einem Kammerkonzert mit Werken von Telemann kommt normalerweise keiner. Aber ein Wandelkonzert mit dieser Musik ist ein Event, das zieht mehr Publikum an. Und nur wenn sie kommen, können wir sie auch begeistern.«
Natürlich ist die Grenze zu reinen Marketing-Events fließend. Wenn die Tourneeproduktion »Schlafkonzert« Tiefenentspannung für Firmenevents verspricht (»Akku aufladen im Schlafkonzert«), geht es sicher nicht in erster Linie um die Musik. Auch traditionelle Raumwechsel wie die sommerlichen Open-Air-Konzerte vieler Orchester haben nicht den Zweck, Ravels »Boléro« einmal mit Zikadengeräuschen zu verbinden, sondern sie sind Werbung – oder einfach ein jährliches Angebot für das Publikum, das sonst nicht kommen mag.
Einmal reicht nicht
Dass ungewöhnliche Konzertformen, wenn sie gut gemacht sind, auch ein bis dahin ungewohntes Hören ermöglichen, kann man bei einem Wandelkonzert der Lautten-Compagney erleben: Mit einer Gruppe bis dahin fremder Menschen zieht man drei Stunden durch eine brandenburgische Kleinstadt, in Bestattungsinstituten und Buchhandlungen warten kleine Ensembles mit musikalischen Überraschungen. Allmählich etabliert sich zwischen allen Beteiligten eine entspannte und offene Kommunikation, die Neugier auf die nächste Musik steigt und man spürt, welches Hindernis in normalen Konzerten das Gefühl darstellt, dank Programmzettel schon zu wissen, was kommt.
Ilka Seifert, die im Team mit Folkert Uhde Konzerte für Festivals, Konzerthäuser und Ensembles gestaltet, meint sogar: »Klassische Konzertrituale verhindern Begegnung.« Hier spricht man bestenfalls mit seinen Begleitern, und die Kommunikation mit den Musikern beschränkt sich auf die musikalische Darbietung und den dafür gespendeten Applaus. »Es ist unfassbar, was eine andere Gesprächsatmosphäre für das Hören auslöst: Wir erleben Resonanzen, das Konzert wird zu einem wirklichen Gemeinschaftserlebnis.«
Ob solche besonderen Konzerte wirklich ein »neues« Publikum anlocken oder nur die kulturell ohnehin schon Interessierten, ist noch nicht untersucht. Publikumsstimmen machen Ilka Seifert aber sicher, dass jedenfalls mehr Besucher kommen, die es sonst eher selten ins Konzert treibt. Die Reaktion »Wenn Konzerte immer so wären, würde ich öfter kommen«, verrät aber auch: Wer glaubt, mit einem einmaligen »ungewöhnlichen« Konzert ein neues Publikum anzulocken, dass fortan auch in »normale« Konzerte kommt, täuscht sich. Das neue Publikum wünscht sich dauerhafte Veränderungen der Konzertform.
Sie nennen sich Designer
Das vielleicht edlere Ziel, mit Hilfe gezielt gestalteter Hörbedingungen die Wirkung der Musik zu unterstützen, ist eng mit dem Wunsch nach einem neuen treuen Publikum verbunden. Denn wer ein Konzert als faszinierend, überwältigend oder erkenntnisstiftend erlebt, kommt gerne wieder. Die Möglichkeiten der Gestaltung sind dabei nahezu endlos: Gezielt eingesetztes Licht steuert die Konzentration, andere Künste wie Video oder szenische Mittel können musikalische Strukturen oder Inhalte betonen. Ein szenisches Ereignis mit Kostüm und Verhaltensregeln ist der Auftritt eines Orchesters ohnehin – eine andere Inszenierung legt das nur offen. Ganz unmittelbar verändern alle Formen der Musikerklärung das Hören, auch wenn moderierte Konzerte oder Gesprächskonzerte wie »Zweimal Hören« keine Neuerfindung sind.
Der Raum ist oft der bestimmende Faktor für die Konzertgestaltung: Wie nah sind sich Musiker und Zuschauer? Wer einmal ein Konzert innerhalb des Orchesters oder Chors erleben durfte, wird die Wirkung der Entfernung vom Klang nie wieder unterschätzen. Kann man die anderen Zuschauer sehen und mit ihnen interagieren? Wie kommuniziert die Musik mit dem Raum? Eng verbunden mit dem Raum sind Verhaltensregeln: Darf und kann oder muss man sich während der Darbietung bewegen? Erlebt man das Konzert im Stehen, Sitzen oder Liegen? Kleine Ensembles und Festivals haben hier ganz andere Möglichkeiten als große Orchester und Konzertsäle mit fester Bestuhlung. Selbst die Beleuchtungsmöglichkeiten sind in vielen Konzertsälen arg begrenzt.
Folkert Uhde, einer der Pioniere der umfassenden Konzertgestaltung, hat dafür eine neue Berufsbezeichnung erfunden: Er und seine Teamkollegen bezeichnen sich als »Konzertdesigner«. Der Ausdruck soll deutlich machen, dass sie viel mehr gestalten als das Programm und die Reihenfolge der Stücke – traditionell das Feld der Konzertdramaturgie. Patrick Hahn, künstlerischer Programmplaner des Gürzenich-Orchesters in Köln und erfahrener Konzertdramaturg, betrachtet diese neue Berufsbezeichnung allerdings mit Unbehagen: »Designer machen Produkte, die man kaufen kann, Konzerte haben aber Zuhörer und keine Kunden. Es geht bei der Gestaltung eines Konzerts nicht darum, etwas zu verkaufen, sondern darum, einen Anlass für Kommunikation zu schaffen.« Auch Wolfgang Katschner von der Lautten-Compagney ist moderat skeptisch: »Das ist so ein Modewort wie ›Kuratieren‹. Der Ausdruck transportiert das Versprechen, da würde etwas ganz Neues passieren, aber es geht um Programmgestaltung, das ist alles.« Dass man bei der Planung eines Konzerts das Licht, die Ensembleaufstellung und die Bestuhlung mit einbezieht, soweit es der Raum erlaubt, finden Hahn und Katschner auch für Dramaturgen selbstverständlich.
Der Dirigent fällt tot um
Ganz gleich, wie sie ihre Tätigkeit nennen, im Kern suchen Dramaturgen und Designer wohl doch dasselbe: Alle betonen die Wichtigkeit von Kommunikation, sowohl zwischen Künstlern und Publikum wie auch unter den Zuhörern. »Es entsteht einfach eine andere Beziehung. Die Distanz, die dem Hörerlebnis im Wege steht, verschwindet«, schwärmt Katschner von gelungenen Experimenten. Er kennt nicht nur die Seite des Konzertplaners, sondern auch des Musikers aus eigenem Erleben. Mit Kommunikation ist aber nicht nur die sprachliche Kommunikation über das Gehörte gemeint, sondern auch die musikalische. Im Konzertalltag entsteht ein Programm schlimmstenfalls aus Gedanken wie „Brahms wär‘ mal wieder dran“ oder „Der Starsolist hat gerade Haydn im Programm“. Im Idealfall tauschen sich Künstler und Konzertgestalter darüber aus, welche Inhalte, Geschichten oder Zusammenhänge sie vermitteln wollen, und Programm und Hörbedingungen dienen diesem Kommunikationsziel. Das vermitteln von Geschichten und Inhalten aber ist die Kernkompetenz von Dramaturgen, betont Hahn: »Die Stücke eines Konzerts kommentieren sich gegenseitig. Das können wir für die Gestaltung nutzen. Spielen wir Wolfgang Rihm vor Anton Bruckner, stellen wir die Perspektive her, unter der wir auf Bruckner schauen.« Neben der Kommunikation, auch darüber besteht Einigkeit zwischen Dramaturgen und Designern, ist die Überraschung ein wichtiges Element. Überraschung schaltet Vorurteile aus und verführt ins Offene: »Wir wollen ja die Menschen geistig irgendwo hinbringen, wo sie noch nie waren. Das Konzert ist ein Angebot an die Wahrnehmung von etwas Unerhörtem«, sagt Hahn.
Apropros unerhört: Die ersten, die nicht nur die gespielte Musik, sondern auch die Hörbedingungen im Konzert gestalteten, waren nicht Konzertgestalter, sondern Komponisten. Ignorieren wir einmal jahrhundertealte Effekte wie im Kirchenraum verstreute Teilchöre oder über die Opernbühne laufende Militärkapellen, sind es vor allem die Avantgarde-Komponisten der 1950er bis 70er Jahre: Die Pioniere der elektronischen Musik nutzten die Wirkung von im Raum verteilten Lautsprechern, was andere Komponisten inspirierte, auch mit konventionellen Instrumenten den ganzen Raum für die Klanggestaltung zu nutzen. Dass andere Kunstformen wie Lichtgestaltung, Literatur und Sprechkunst, Theater und Performance in die Konzertmusik einbezogen, regelrecht »einkomponiert« wurden, stammt ebenfalls aus der Suchbewegung der musikalischen Avantgarde. So zwang Mauricio Kagel 1981 den Dirigenten von »Finale« (in der Uraufführung war es Kagel selbst) zu einem szenischen Einsatz: Er musste scheinbar tot auf dem Podium zusammenbrechen. Klaus Lang verlangt für »fichten« (2003/2004) erstmals ein liegendes Publikum, heute kann man auch ein Mozart-Streichquartett liegend hören. Auch das Erklären von Musik innerhalb von Konzerten hat seine Wurzeln in der Neuen Musik, die lange als erklärungsbedürftiger empfunden wurde als Beethoven. So etablierten der Komponist Hans Zender und das Ensemble Modern Anfang der 90er Jahre die Gesprächskonzert-Reihe »Happy New Ears«, in der jeweils ein einziges Werk im Mittelpunkt stand und »auseinandergenommen« wurde.
Doch solche Angebote erreichen wieder nur das bildungsbeflissene Publikum. Patrick Hahn mag es deshalb, wenn solche außermusikalischen Elemente auch mal überraschend auftauchen: »Wir hatten neulich ein Konzert, das ganz normal anfing: François-Xavier Roth dirigierte ein modernes Stück, das Publikum guckte ins Programmheft oder auf die Uhr. Plötzlich bracht er ab, drehte sich um, sagte ›Guten Abend‹ und erläuterte kurz die Musik.« Manche Hörer allerdings fühlen sich durch solche Interventionen zwangsbelehrt. Ein anderes »Überraschungsei« innerhalb des normalen Konzertbetriebs ist der von Markus Stenz zunächst in den USA etablierte »3. Akt«, eine Variation der altbekannten Zugabe: Zusätzlich zum angekündigten Konzertprogramm spielt das Orchester ein Überraschungswerk. Erst beim Hinausgehen erhalten die Zuhörer einen Programmzettel mit näheren Informationen.
Da es das Wesen „ungewöhnlicher“ Konzerte ist, zu überraschen und die Form für die jeweilige Musik neu zu erfinden, entstehen dabei nicht unbedingt neue Formen, die sich im Abonnements-Alltag etablieren können. Einen Einfluss auf den Alltag haben diese Experimente trotzdem. So stellt Wolfgang Katschner auch bei „traditionellen“ Konzerthäusern eine Tendenz zu immer durchdachteren und experimentierfreudigen Programmen fest, auch wenn die Konzertrituale dabei nicht angetastet werden. Auf die Frage nach Elementen, die sich fast immer bewähren, empfiehlt die Konzertdesignerin Ilka Seifert „die räumliche Trennung von Publikum und Musikern aufheben, wo immer es musikalisch und räumlich möglich ist. Je näher die Hörer der Musik sind, desto besser ist das Erlebnis in der Regel.“ Außerdem ermutigt sie, die Zuschauer mehr mitbestimmen zu lasen. Nicht nur darüber, wo und wie sie sitzen, sondern auch, was sie hören: „Man ist überrascht, wie anspruchsvoll und neugierig das Publikum ist, wenn es mitbestimmen darf, was gespielt wird“. Außerdem hört man anders zu, wenn man ein Werk selbst ausgewählt hat und sich vielleicht sogar anderen Zuhörern gegenüber dafür einsetzen musste. Sie berichtet von einem Konzert des Mandelring-Quartetts, in dem das Publikum das gespielte Schostakowitsch-Streichquartett auswählen durfte: „Da bildeten sich überraschende Koalitionen unter völlig fremden Leuten, es war eine tolle Gemeinschaftserfahrung, die dann auch das Hören beflügelte.“ Und so ist ihr dritter Rat: Bringe Publikum und Musiker miteinander ins Gespräch, das sorgt für „Resonanzerlebnisse“ auch bei der musikalischen Kommunikation.
Was man für Unsinn hält
Das »stinknormale«, nichtmoderierte Konzert im Konzertsaal hat auch sein Gutes, schon rein praktisch betrachtet: Konzertsäle sind Räume, die zum Musizieren und Hören gebaut wurden. Zumindest die Konzertmusik seit 1800 wurde meist für solche Räume komponiert. Und auch experimentierfreudige Musiker wie Wolfgang Katschner wissen die Qualitäten eines konventionellen Konzerts zu schätzen: »Ich spiele schon sehr gern in einem beheizten Saal mit guter Akustik, bequemen Garderoben gleich neben der Bühne und so weiter. Es ist schon hart, wenn man stundenlang mit seinem Instrument durch Schlossgebäude oder Fabrikgelände irrt, weil die Garderoben sonstwo improvisiert wurden.«
Selbst den oft geschmähten, vermeintlich steifen Konzertritualen kann Konzertplaner Hahn etwas abgewinnen: »Die Stille vor dem ersten Ton und nach dem letzten Ton bildet eine Rahmung für die Musik – wie der Rahmen eines Bildes. Elias Cannetti sprach auch vom ›Stocken der Masse‹ vor dem Einsatz der Musik. Auch die klassischen Konzertrituale sind gelernte Muster, mit denen wir arbeiten können. Überraschen kann man nur von einer Erwartungshaltung aus, also wenn alle denken, nach einer Musik senkt der Dirigent die Arme, es gibt Applaus und dann kommt das nächste Stück. Folgt auf die Stille nach dem ersten Stück gleich das nächste, ist man überrascht und bringt das zweite Werk ganz anders mit dem ersten in Verbindung. Für mich ist daher die eigentlich spannende Frage: Welche Stellschrauben kann man in der ›klassischen Form‹ drehen, ohne gleich alles in Frage zu stellen?«
Es lohne sich aber, so Wolfgang Katschner, auch das auszuprobieren, was man anfangs für Unsinn halte: »Wir waren mal zu einem Konzert bestellt, das morgens um vier anfangen sollte, zum Sonnenaufgang. Das fand ich blödsinnig. Aber dann haben wir es doch gemacht, und es war phantastisch, sehr poetisch und besonders.« Auch Patrick Hahn ist neugierig auf alles, was man im Musikhören erleben kann: »Sechs Stunden im Bergwerk oder morgens um vier auf dem Berggipfel – ich will das schon alles ausprobieren!«
© Ann-Christine Mecke 2022 | erschienen im Gewandhausmagazin 115 (Juni 2022)
Beitragsbild: Gert M
Beitragsbild: Sunrise at Pinnacle Mountain, Feb 3, 2019 by Nick Gowen (Nngowen), CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons