Wie »Faust« entstand

Über Charles Gounods Oper

Wer Goethes Faust kennt und erstmals das Libretto von Gounods gleichnamiger Oper liest, dürfte irritiert sein: Faust will nicht »Mit seinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen«, sondern wünscht sich einfach nur die Jugend zurück. Einige Elemente der Handlung sind bis zur Unverständlichkeit verkürzt: Hat Marguerite wirklich ein Kind geboren und umgebracht? Wann haben sich Schwangerschaft und Geburt ereignet? Warum hat Faust Marguerite verlassen? Auch die gewitzt-philosophischen Gespräche zwischen Faust und Mephisto aus der Goethe’schen Vorlage sind verschwunden, stattdessen gibt es Gimmicks wie Blumen, die bei Berührung verwelken und Schwertgriffe als Kreuzsymbol, das den Teufel in die Flucht schlägt.

So eindrucksvoll die einzelnen Szenen der Oper sind, so mitreißend und anrührend die Melodien, so gelungen ihre Instrumentation – ihre Montage mutet oft seltsam an: Das bedeutungsvolle Thema der Ouvertüre entpuppt sich als Melodie der Arie einer Nebenfigur, nur dass sich diese Arie kaum als »Motto« der Oper interpretieren lässt, wie es durch ihr Auftauchen in der Ouvertüre nahegelegt wird. Die Melodie, zu der sich Faust und Marguerite in die Arme sinken, erscheint in der Apotheose Marguerites erneut, und mitten im Stück verherrlicht ein donnernder Soldatenchor das Sterben fürs Vaterland. Fast scheint es, als hätte man es mit einem Pasticcio zu tun, also einer Oper, die aus verschiedenen Werken zusammengestellt wurde. Und so ähnlich verhält es sich auch: Die Entstehung dieser Oper zog sich über so lange Zeit hin, so viele Personen brachten ihre Einzelinteressen ein, dass man kaum von einem geschlossenen Werk sprechen kann.

Faust auf dem Pariser Boulevard

Goethes Faust war in den 1850er-Jahren in Paris ein ausgesprochen beliebter Stoff. 1827 war die französische Übersetzung von Gérard de Nerval erschienen und begeistert aufgenommen worden; 1829 hatte Hector Berlioz auf Basis dieser Übersetzung seine Schauspielmusik Huit scènes de Faust komponiert, aus der 1846 die »Légende-dramatique« La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) wurde. In den Boulevard-Theatern von Paris gab es diverse Versionen des Stoffes zu sehen, die allerdings stärker dem Publikumsgeschmack als Goethes Text verpflichtet waren. Das »Phantastische Drama« Faust von Adolphe d’Ennery etwa überrascht mit einer zusätzlichen weiblichen Teufelsgestalt namens Sulphurine, die Fausts Assistent Wagner mit alchemistischen Mitteln erschafft. Sulphurine sorgt zusammen mit dem anmaßenden Wagner und dessen strohdummem Begleiter Fridolin für einige unterhaltsame Szenen. Auch Méphistophélès setzt seine magischen Fähigkeiten sehr bühnenwirksam ein: Beispielsweise bringt er Faust, nachdem dieser Marguerite verlassen hat, ins sonnige Neapel. In der italienischen Wärme bilanziert Faust: »Marguerite, ein sanftes, ruhiges Kind, dessen Seele so kalt ist wie unser kaltes Deutschland.« Als ihn dennoch Schuldgefühle quälen, zaubert Méphistophélès ihn in die Vergangenheit, wo die beiden den Vesuv-Ausbruch erleben, der die Stadt Herculaneum zerstörte. Kurz: Adolphe d’Ennery hat sich vor allem den Rat von Goethes Theaterdirektor zu Herzen genommen: »Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen«

Gegenüber dieser Version ist Michel Carrés Phantastisches Drama Faust et Marguerite, das 1850 uraufgeführt wurde und später zur Vorlage von Gounods Oper wurde, vergleichsweise unaufwändig. Aber auch Carré spart nicht mit Slapstick-Szenen und Humor, insbesondere in den vergeblichen Kämpfen Siébels gegen Méphistophélès. Siébel ist eine Erfindung Carrés. Eine Figur dieses Namens gibt es zwar schon in Goethes Faust I. Dort handelt es sich jedoch nur um einen Studenten, der in Auerbachs Keller mit Mephisto aneinandergerät und danach nicht wieder auftaucht. Bei Carré ist Siébel ein Student Fausts, der zum Konkurrenten um Marguerite wird. Auch die Rolle des Valentin wird in Carrés Theaterstück deutlich vergrößert. Dafür verzichtet Carré völlig auf das Motiv der Kindstötung; Marguerite wird allein wegen ihrer Affäre mit Faust von ihrem sterbenden Bruder verflucht, anschließend findet die Handlung schnell zur Auflösung und Apotheose Marguerites, während Faust und Méphistophélès zur Hölle fahren.

Lange geplant

Gounod geriet früh in den Bann des Faust-Stoffes. Während seines Rom-Aufenthalts um 1840 las er begeistert in Nervals Übersetzung. Etwa zur gleichen Zeit entstand das Klavierstück A la lune, das bereits eine Melodie aus dem Duett von Faust und Marguerite enthält. Ein Jahr später berichtet der Komponist seinem Bruder, dass er einzelne »Effekte« für Faust komponiert habe und hoffe, daraus eine Oper machen zu können. 1848 und 49 entstanden musikalische Skizzen für die Walpurgisnacht und die Kirchenszene – alles noch ohne Librettisten oder Uraufführungsgelegenheit.

Konkreter wurden die Pläne erst weitere sieben Jahre später, als Gounod mit Michel Carré, Jules Barbier und dem mit ihnen verbundenen Léon Carvalho zusammentraf. Carvalho war Direktor des Théâtre-Lyrique geworden, einer Nachwuchsschmiede der Pariser Opernszene von bis dahin eher zweifelhaftem Ruf. Barbier sollte auf Basis des Theaterstücks von Carré ein Opernlibretto für Gounod entwerfen, das Carvalho dann auf die Bühne bringen würde. Als sich allerdings herausstellte, dass ein Konkurrenztheater ebenfalls ein Faust-Stück plante (es war das »Phantastische Drama« von Adolphe d’Ennery), drängte Carvalho auf einen anderen Stoff, und die Arbeit am Faust wurde unterbrochen. Erst als sich erwiesen hatte, dass d’Ennerys Faust trotz der eindrucksvollen Bühneneffekte wenig erfolgreich war, konnten die Autoren ihre Arbeit fortsetzen.

Bei der Umarbeitung zum Opernlibretto näherte Jacques Barbier die Geschichte wieder Goethe an: Er ergänze Walpurgisnacht und Gefängnisszene und nutzte für viele Passagen nahezu wörtliche Übersetzungen des Goethe-Textes. Auch die Kindstötung fand seinen Weg zurück ins Libretto. Gleichwohl blieben Elemente des Boulevardstücks erhalten: der Teufel als böser Magier, der nicht philosophiert, sondern mit pragmatischen Tricks beim Frauen-Erobern und Fechten hilft, komische Szenen zwischen Siébel, Marthe und Méphistophélès sowie manche Effekte aus der Theater-Trickkiste wie die verwelkenden Blumen.

Die so konzipierte Faust-Oper war eine Opéra comique, d.h. die musikalischen Nummern waren durch Dialoge und Melodrame miteinander verbunden. Wichtige Teile der Handlung wurden in den Dialogen vermittelt, und insbesondere die Figuren Marthe, Siébel und Wagner werden dort wesentlich charakterisiert.

Die Probenphase

Bei den ersten Durchlaufproben stellte sich heraus, dass das Stück erheblich zu lang war, und so gab es zahlreiche Kürzungen. Gounod riss die betreffenden Nummern aus den Noten, die meisten Manuskriptseiten verschwanden und wurden erst lange nach Gounods Tod wiederentdeckt. Einiges davon ist bis heute verschollen und muss als dauerhaft verloren oder nie komponiert gelten, anderes ist inzwischen wieder zugänglich. Zu den noch vor der Premiere gestrichenen Nummern gehören

  • ein Terzett zwischen Siébel, Faust und Wagner aus dem 1. Akt
  • ein Abschiedsduett zwischen Marguerite und Valentin aus dem 2. Akt • ein zweiter, Cabaletta-artiger Teil von Fausts Arie im 3. Akt
  • Couplets (ein Strophenlied) von Marguerites Freundin Lise und ein
  • Chor junger Mädchen aus dem 4. Akt
  • Couplets »Versez vos chagrins« von Siébel aus dem 4. Akt
  • Couplets des zurückkehrenden Valentin aus dem 4. Akt
  • erhebliche Teile der Walpurgisnacht aus dem 5. Akt
  • eine mehrteilige Wahnsinns-Szene der eingekerkerten Marguerite im 5. Akt

Méphistophélès’ Spottlied im 2. Akt bereitete Gounod offenbar erhebliche Anstrengung: Singt der Teufel in Goethes Faust ein Lied über den Floh, war für die Oper zunächst ein Lied über einen goldglänzenden Mistkäfer geplant, das kurz vor der Uraufführung durch das Rondo vom Goldenen Kalb ersetzt wurde. Zuvor soll es vier weitere Versionen gegeben haben, die vom Theaterdirektor abgelehnt wurden.

Auch ein ganz neues Element kam während der Proben hinzu: Der Soldatenchor. Er ersetzte ein Lied Valentins, in dem dieser berichtet, wie er in den Strapazen des Krieges stets von seiner Schwester geschwärmt habe. Der Chor stammt aus einer anderen, unaufgeführten Oper Gounods: Ivan le terrible. Auch wenn die weitgehenden Änderungen der Oper grundsätzlich gutgetan haben – die erste Version soll nahezu fünf Stunden gedauert haben! –, haben sie gleichwohl zahlreiche Brüche und Inkonsistenzen erzeugt. So ist die besondere Beziehung, die Valentin mit seiner Schwester verbindet, ohne Duett und Couplets nahezu entfallen, Siébel und Wagner stolpern ohne das Terzett uneingeführt in die Handlung und die Walpurgisnachtszene wirkt fragmentarisch. Auch musikalische Verweise bleiben aufgrund von Streichungen in der Luft hängen, beispielsweise zitieren die Flöten das – nun nicht mehr vorhandene – Abschiedsduett der Geschwister, als Marguerite nach dem Lied vom König in Thule an Valentin denkt. Gounod hatte jedoch in der Probenphase nur noch begrenzten Einfluss und war den Launen und Ideen des Theaterdirektors Carvalho ausgeliefert, der den Komponisten nach Augenzeugenberichten mehrfach zum Weinen brachte. Zudem musste in den Schlussproben noch der Tenor ausgetauscht werden.

Was schließlich am 19. März 1859 zur Uraufführung kam, stand stilistisch bereits zwischen Opéra comique und Grand opéra: Längere Dialogpassagen gab es nur in den mittleren drei Akten, der erste und der fünfte waren nahezu durchkomponiert und von den eher unterhaltsamen Nebenfiguren befreit.

Veränderungen nach der Uraufführung

Mit der Uraufführung gelangte die Genese der Oper keineswegs zu ihrem Abschluss. Erste Änderungen am Théâtre-Lyrique gab es 1861, als Faust wiederaufgenommen wurde. Da eine Aufführung mit gesprochenen Dialogen außerhalb Frankreichs kaum denkbar war, begann Gounod schon bald nach der Premiere mit der Komposition von Rezitativen, die die Dialoge und Melodrame ersetzen sollten. 1860 kamen sie in Straßburg erstmals zur Aufführung und verdrängten die Comique-Fassung bald ganz.

Ohne die Dialoge jedoch werden vor allem Siébel, Marthe und Wagner erheblicher Charakteranteile beraubt. Da vor allem unterhaltsame Szenen entfielen, wirken die übriggebliebenen nun erst recht wie Fremdkörper. Am härtesten haben die Veränderungen Wagner getroffen: In der ursprünglich geplanten Fassung ist er ein praktisch veranlagter, lebensfroher Medizinstudent, ein loyaler Freund Valentins und Siébels, der sein Studium zugunsten der körperlichen Herausforderungen des Krieges an den Nagel hängt. Im vierten Akt kann der heimkehrende Valentin dem erschütterten Siébel nur noch berichten, dass ihr gemeinsamer Freund in einem »mörderischen Krieg« gefallen ist. In der heute üblicherweise gespielten Fassung erscheint Wagner hingegen erst im zweiten Akt als trinklustiger Soldat, dessen Name nicht weiter erwähnt wird. Er gerät in Konflikt mit Méphistophélès und verschwindet dann sang- und klanglos aus der Handlung, während die heimkehrenden Soldaten vom Krieg schwärmen.

Die – ohnehin nur ausschnittweise erzählte – Geschichte des gemeinsamen Kindes von Faust und Marguerite wird in der Rezitativfassung weitgehend unverständlich. In der Dialogfassung erfährt man von Marguerite zu Beginn des 4. Aktes, dass das Kind bereits geboren wurde und Faust sie nach dessen Geburt verlassen hat. Später neckt Méphistophélès Faust damit, dass er wohl vor den »Vaterfreuden« geflohen sei. Ohne die Dialoge bleibt vom Kind nichts als eine einzige Bemerkung Fausts in der Kerkerszene übrig: »Ihr armes Kind, oh Gott, sie hat es getötet.« Die Regie ist mit der Frage alleingelassen, ob Valentin seine Schwester schwanger oder an einer Wiege vorfindet.

Während die Probenphase und die ersten Aufführungen zu Kürzungen geführt hatten, erfuhr die Oper bei ihrem Siegeszug durch Europa Erweiterungen. Und während ihre Gestalt bisher vor allem von einem Theaterdirektor geformt worden war, wirkten sich nun Sängerwünsche und Publikumsgeschmack auf diese aus: 1863 schrieb Gounod für eine italienischsprachige Aufführung neue Couplets für Siébel – sie waren ein später Ersatz für die in der Uraufführung gestrichenen Couplets und wurden später ins Französische übersetzt. Ein Jahr später fand in London eine englischsprachige Aufführung statt, und diesmal bat der Sänger des Valentin um eine zusätzliche Arie. Gounod entwickelte sie kurzerhand aus dem Hauptthema der Ouvertüre. Der Komponist betrachtete sie als eine Gelegenheitskomposition und wollte sie außerhalb von England nicht aufgeführt wissen. Erneut aber hatte er kein Entscheidungsrecht mehr über das Werk: Weder Sänger noch Publikum wollten auf die schöne Melodie verzichten, und so geriet sie in französischer Übersetzung in die Partitur und gehört heute unstrittig zum Werk dazu.

Die letzten Ergänzungen gab es zehn Jahre nach der Uraufführung: Für die Erstaufführung an der Pariser Opéra 1869 musste Gounod konventionsgemäß ein Ballett nachkomponieren. Er reicherte dafür die sehr knapp gefasste Walpurgisnacht-Szene durch ein siebenteiliges Tanz-Intermezzo an, außerdem entstanden für den Sänger des Méphistophélès weitere Couplets, in denen er sich als Gastgeber der Veranstaltung präsentiert. Beide Elemente geben der Walpurgisnacht mehr Gewicht, verstärken aber zugleich ihren disparaten Charakter.

Eine wechselvolle Geschichte hat die Kirchenszene, die mitten im Akt einen erheblichen Umbau erfordert. Die Szene lag ursprünglich zwischen der Rückkehr der Soldaten und dem Tod Valentins. Dies machte es notwendig, dass Marguerite das Spinnrad nicht in ihrem Zimmer, sondern im Garten vor ihrem Haus aufgebaut hat – denn auf die klassische Szene »Gretchen am Spinnrad« wollte man natürlich nicht verzichten. Aus bühnenpraktischen Gründen wurde die Kirchenszene aber bereits in der Uraufführung auf das Ende des 4. Akts verschoben (wo sie auch in Goethes Faust positioniert ist). In späteren Aufführungen wanderte die Kirchenszene manchmal auch vor die Rückkehr Valentins, je nach den Möglichkeiten und Grenzen von Bühnenbild und Bühnentechnik.

Und nun?

Wie soll man umgehen mit einer Überlieferungssituation, die erheblich von Entscheidungen geprägt ist, die nicht vom Komponisten getroffen wurden und oft sogar gegen seinen Willen? Mit einer Oper, deren »Urfassung« nicht vollständig zu rekonstruieren ist? Und ist der (vermutete) Wille des Komponisten überhaupt noch das Entscheidende, wenn die Rezeptionsgeschichte sich längst ein überaus erfolgreiches Werk »zurechtgeschliffen« hat? Dass dabei immer die wirksamste und nie die konsistenteste Lösung gewann, erscheint dabei nur passend für eine Oper, in der der sinnliche Genuss des Augenblicks im Zentrum steht. Gounods Faust ist eher ein Baukasten als ein geschlossenes Werk. Selbst wenn man sich (wie in dieser Aufführung) an der »üblichen« Werkgestalt orientiert, sind zahlreiche Varianten möglich und gut zu begründen. Der disparate und fragmentarische Charakter lässt sich jedoch nicht tilgen. In Frank Castorfs Regie erfährt er besondere Aufmerksamkeit – und sogar die Gattung Melodram hält mit Gedichten aus der Entstehungszeit wieder Einzug in die Oper.


Erschienen im Programmheft der Wiener Staatsoper zu Faust (April 2021)