Bachs Backpfeiffen

800 Jahre Thomanerchor, das ist auch die Geschichte von 800 Jahren Ohnmachten auf Emporen und Bühnen. Das von schlechter Luft und langem Stehen verursachte Phänomen ist uns auch heute noch vertraut, nicht nur von den Thomanern, sondern von Chören aus aller Welt: Einer der Sänger – er ist dem aufmerksamen Zuschauer schon vorher als ein wenig blass aufgefallen – schaut zunächst abwesend in die Ferne und sinkt dann zusammen. Für geübte Chöre ist das nichts Besonderes, für die Zuschauer schon: Sie verfolgen meist mit großer Anteilnahme, wie der Sänger, sobald es ihm nach kurzer Behandlung am Spielfeldrand besser geht, wieder seinen Platz einnimmt.

Weniger bekannt ist allerdings, dass solche Ohnmachtsanfälle in früheren Jahrhunderten noch viel häufiger vorkamen. Im Mittelalter wurden anfällige Sänger oft aufrecht an der Kirchenbank festgebunden, damit sie den Chor im kollabierten Zustand wenigstens noch optisch unterstützten. In der Renaissance mussten zuweilen Gottesdienste abgebrochen werden, weil der Chor mehrheitlich bewusstlos war und die tückische Kombination aus Riechsalz- und Weihrauchgeruch auch den Geistlichen in die Waagerechte gezwungen hatte. Zu Johann Kuhnaus Zeiten entwickelte sich die Ohnmacht dann zu einer beliebten Strategie, sich dem Alltag zu entziehen: Nach gezielter Hyperventilation gingen ganze Stimmgruppen geschlossen in die Knie. Johann Sebastian Bach wetterte gegen das »schlimme Collaps-Laster«, das »gerade die capablen Sänger offt bis zur perfection exerciren u. der Kirchen Music abträglich sind«. Er ordnete Wechselduschen an und entwickelte eine Technik, Ohnmächtige noch während der Kantate in Schocklage zu bringen, ohne dabei die eigene Violine abzusetzen. Die meisten Sänger, die von Bach persönlich ins Bewusstsein geohrfeigt wurden, verzichteten bald auf die schädliche Angewohnheit.


© Ann-Christine Mecke 2012 | erschienen im Gewandhausmagazin 74 (März 2012)