Pssst!

Ganz gleich, ob im Konzert zwei Sonatenthemen ihren Kampf auf Leben und Tod ausfechten oder auf der Opernbühne zwei Nebenbuhler sich duellieren: Was sich im Zuschauerraum abspielt, ist meist nicht weniger dramatisch. Neulich zum Beispiel: Vor mir eine Dame im Strickjäckchen, hinter mir ein Mann im fadenscheinigem Anzug. Bereits beim Auftritt des Dirigenten hüstelt er mit geschlossenem Mund. Als die Künstler sich sammeln, nestelt die Dame an ihrem Kragen.

1. Satz: Während die Symphonie sich in immer geheimnisvollere Tonarten begibt, steigert sich das unterdrückte Husten von hinten. Vor mir streichelt der Begleiter der Dame ihr beruhigend über den Rücken.

2. Satz: Hinter mir wird ein Hustenbonbon ausgepackt. Ganz langsam. Beim überraschenden Bonbonpapier-Dacapo wendet die Frau sich um und schaut mich empört an. „Psst!“ zische ich demonstrativ nach hinten. Der Mann erschrickt, lässt den Bonbon fallen und beginnt zu husten. Die schweißnassen Haare der Frau vor mir zittern.

3. Satz: Zu den Klängen des Scherzos hilft der Begleiter der Dame in einem ausufernden Pas de deux aus der figurbetonten Strickjacke. Der Mann hinter mir scheint ein Taschentuch gefunden zu haben.

4. Satz, Finale: Das Taschentuch verliert seine schalldämpfende Wirkung und wird fallengelassen wie das Seitenthema. In einem gewaltigen Crescendo entlädt sich die aufgestaute Bronchitis; in der Reprise landet ein Schleimbrocken auf der nun nackten Schulter der Dame. Während die Symphonie leise verklingt, steht die Frau auf, stützt sich auf mich und steckt dem erkälteten Mann ihr zusammengerolltes Programmheft in den Mund.

Plötzlich ist es ruhig. Orchester und Dirigent verharren, Reste des Schlussakkords schweben noch in der Luft. „Hast du die Garderobenmarke?“ flüstert der Begleiter der Strickjackenfrau in die Stille. Noch bevor der Applaus einsetzt, schlagen die beiden sich durch die Reihen zum Ausgang. An ihrem Absatz klackert ein Hustenbonbon.


© Ann-Christine Mecke 2015 | erschienen im Gewandhausmagazin 89 (Dezember 2015)