Totdirigiert

Kapellmeister Grün war hoch erstaunt, als er nach dem Konzert sein Hotelzimmer betrat und dort die Leiche Felix Mendelssohn Bartholdys vorfand. Zwar hatte er sich oft erträumt, dem Meister leibhaftig zu begegnen. Namentlich wenn er wie heute ein Konzert mit seinen Werken dirigierte, hätte er sich danach einen Plausch mit ihm an der Hotelbar gewünscht. Allerdings war Mendelssohn in solchen Träumen stets lebendig gewesen.

»Herr Mendelssohn, Sie sind seit fast 168 Jahren tot!«, stammelte Grün – so begann das Gespräch auch in seinen Träumen. Der Komponist machte jedoch keine Anstalten, die für ihn vorgesehene Antwort »Aber heute haben Sie mich wieder lebendig gemacht, mein lieber Herr Grün!« auszusprechen, sondern lag weiter unbewegt auf dem Hotelbett, den Kopf auf dem blütenweißen Kopfkissen, gleich neben der Praline, die der Zimmerservice als Betthupferl bereitgelegt hatte. Mendelssohns Schuhe standen ordentlich nebeneinander neben dem Bett, genau wie Grün seine Schuhe abstellte, wenn er vor dem Konzert noch ein kleines Nickerchen machte.

Grün setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, als mache er einen Krankenbesuch. Auch bei genauer Betrachtung war der Mann auf seinem Bett eindeutig Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Leiche sah frisch aus, als hätte der Komponist vor wenigen Stunden noch gelebt; der Backenbart war sorgfältig gestutzt, das Hemd sauber und gestärkt. Nur das Halstuch saß sehr eng, ungewöhnlich eng. Vielleicht lebte der Meister noch, war nur durch das stramme Halstuch ohnmächtig geworden? Kapellmeister Grün zögerte nur kurz: Wenn er es dem großen Komponisten, sei er nun tot oder nicht, etwas bequemer machen konnte, war es doch seine Pflicht! Respektvoll löste er den Knoten und lockerte das Tuch. Da sah er sie. Die Mordwaffe. Blut war merkwürdigerweise nicht zu sehen, aber es war eindeutig eine Gewalttat geschehen: Im Hals der Leiche steckte Grüns Taktstock.


© Ann-Christine Mecke 2015 | erschienen im Gewandhausmagazin 88 (September 2015)