Abschied

Etwas außerhalb der Wiener Innenstadt liegt der Haydnpark. Hier war früher ein Friedhof, auf dem Joseph Haydn 1809 bestattet wurde. Ruhe fand er aber nicht: Nach der Beerdigung wurde sein Schädel gestohlen,
später der enthauptete Leichnam nach Eisenstadt überführt. Erst 1954 folgte der Schädel.

Ein Gedenkstein für Haydn ist trotzdem noch neben Parkbänken und stählernen Fitnessgeräten zu finden.
Hier stehe ich, lausche den Vögeln und betrachte den Stein. Als ich mich umdrehe, steht er plötzlich vor mir,
inklusive Kopf: Joseph Haydn. »Wussten Sie eigentlich «, fragt er unvermittelt, »dass meine sogenannte
Abschiedssinfonie eine ›Wiedersehenssinfonie‹ ist?« Ich schüttle den Kopf, schließlich verstummt am Ende der Sinfonie ein Instrument nach dem anderen. »Irgendein Trottel hat die letzten Seiten verschwinden lassen, auf denen nach und nach alle wieder einsetzen. Das symbolisiert das Vertrauen auf bessere Zeiten, auf Regen folgt Sonnenschein und so weiter.«

»Wirklich? Schreiben Sie die fehlenden Seiten doch bitte noch einmal auf! Das ist ja eine Sensation.« Haydn lacht und springt auf einen stählernen Crosstrainer: »Ach, junge Frau, ich bin doch eigentlich gar nicht hier. Ich wollte es Ihnen nur erzählen.« Er hält inne und sieht mich ernst an: »Schauen Sie, als ich auf dem Sterbebett lag, herrschte Krieg, in meiner Nachbarschaft schlugen napoleonische Kanonenkugeln ein. Heute spielen hier Kinder, und ich habe meinen Kopf wieder. Verstehen Sie?«

Ich lasse meinen Blick über den ehemaligen Friedhof schweifen, der jetzt ein Park ist. »Glauben Sie denn, dass Ihre Wiedersehenssinfonie heute noch passen würde? Heute haben wir Atombomben und die Klimakrise. Ich weiß nicht, ob in 200 Jahren noch irgendwo Kinder spielen.«

»Aber, aber«, lacht Haydn, und seine Gestalt beginnt vor meinen Augen zu verblassen, »woher soll ich das wissen? Das war doch alles nur ein Scherz!«


© Ann-Christine Mecke 2022 | erschienen im Gewandhausmagazin 115 (Juni 2022). Letzte Kolumne für das Gewandhausmagazin

Beitragsbild: Gert Mothes