Alles ist neu

„Wie Kino mit richtig geiler Filmmusik“ sei es, „aber viel echter, und gleichzeitig viel mehr arty, verstehst du?“– „Blödsinn! Es ist wie die abgefahrenste Performance, die du je erlebt hast, aber mit einer Geschichte.“ – „Pfft, Geschichte…!“ Es war heiß hergegangen, als Antons Freunde versucht hatten, die neue Kunstgattung in Worte zu fassen. War es nun „krass emotional“ oder „total intellektuell“, was einen dort erwartete? Schließlich hatte man sich geeinigt, dass Anton sich das eben selbst anschauen müsste, denn das echte Erlebnis habe mit den Streamings und Fernsehübertragungen „absolut nichts“ zu tun. Also gut, hatte Anton verkündet, dann werde er sich den neuen heißen Scheiß eben auch mal ansehen.

Leichter gesagt als getan: Die Karten wurden im Darknet zu horren­den Preisen gehandelt. Die Theater hatten den Onlineverkauf wegen der vielen Hackerangriffe eingestellt, Fans campierten tagelang vor den Theaterkassen (Antons Kumpel Julian war in einer Nacht beim Anstehen ein Zeh erfroren) und fielen sich jubelnd um den Hals, wenn sie eine Eintrittskarte ergatterten. Wann war es auch zuletzt vorgekommen, dass nicht nur ein neuer Stil, sondern eine ganz neue Kunstform erfunden wurde? Vielleicht hatte es eine Pandemie ge­braucht, um etwas zu erfinden, das alle bekannten Rahmen sprengte. Nun waren die sozialen Medien voll von echten und gefakten Erlebnisberichten, im Radio sprachen Wissenschaft­lerin­nen fasziniert vom „affektbetonten komponierten Dialog“, Sänger und Dirigentinnen wurde im Frühstücksfernsehen über die enormen Herausforderungen der neuen „Trendperformance“ befragt. Kritiker versuchten, ihre Ergriffenheit in Worte zu fassen, Blogger analysierten Klavierauszüge und Regiebücher, während Youtube-Tutorials über den Umgang mit ungewohnten Emotionen informierten, die die neue Kunst auslösen könnte. In Frühstückcerealien fanden sich berühmte Bühnenbilder als Bastelsets, bei Tictoc imitierten Jugendliche die besten Sänger-Moves.

Heftig stritt man über den richtigen Namen: „Musiktheater“ fanden viele am treffendsten, andere hingegen zu profan. In den USA nannte man die neue Gattung „Musical“, was Julian als ein viel zu läppisches Adjektiv empfand. Er selbst sprach nur vom „disparaten Gesamtkunstwerk“. Eine italienischer Bloggerin hatte „Opera“ vorgeschlagen, was ihr anfangs viel Spott eingebracht hat – dann könne man ja auch gleich „Stück“ sagen, fand Julian – sich dann aber doch international durchsetzte.

Die drei Nächte mit Schlafsack vor der Theaterkasse waren überraschend vergnüglich. Anton kam mit den anderen Wartenden ins Gespräch; man berichtete von eigenen oder fremden Opern­erfahrungen, versorgte sich gegenseitig mit heißen Getränken und sprach über Erwartungen an die Aufführung, für die man Karten erwerben wollte. Es gab Fangruppen, die Melodien verschiedener Opern intonierten, und Nerds, die ungefragt Vorträge hielten. Anton erfuhr, dass das Stück, das er sich ziemlich willkürlich ausgewählt hatte, auf einen antiken Mythos zurückging, diesen aber mit der literarischen Sprache aus dem 19. Jahrhundert und Musik von heute kombinierte, wobei die Sängerinnen und Sänger sich bemühten, die entstandenen Widersprüche in innere Widersprüche ihrer Charaktere zu übersetzen. Anton konnte sich das nicht recht vorstellen, aber seine Neugierde wuchs. Weiter vorne in der Schlange geriet eine Gruppe in Streit über die Frage, ob Opern­regie wirklich die Aufgabe habe, das Singen zu einer „wahrhaften und unentbehrlichen Äußerung“ zu machen. Es kam zu einem Gerangel, ein älterer Herr trat schließlich schimpfend den Rückzug an.

Neben Anton lagerte Leah, eine Musikstudentin, die sogar schon einmal selbst in der Oper gewesen war. Auf seine Bitte erklärte sie ihm den Unterschied von Arie und Rezitativ und sang ihm einige Leitmotive vor. Bald sprachen sie so angeregt über das Phänomen der Zeitdehnung durch Musik, dass sie, als die Kasse plötzlich öffnete, nebeneinanderliegende Plätze erwarben und sich gegenseitig ihre Telefonnummern auf die Schlafsäcke schrieben. „#Oper: bereits romantisch, bevor sie angefangen hat!“, twitterte Anton eine Stunde später aus der heißen Badewanne.

Er war wahnsinnig aufgeregt, als er endlich das Theater betrat, und hätte nicht sagen können, ob es wegen Leah war oder wegen des bevorstehenden Kunsterlebnisses. Gespannt lauschte er, wie die chaotisch flirrenden Orchesterinstrumente sich auf einen Stimmton einigten, während er Details des Bühnenbilds betrachtete, in dem bereits eine Person auf- und abging. Das Licht im Zuschauerraum ging aus. „Was jetzt kommt“, flüsterte Leah, „hast du noch nie erlebt.“


(c) Ann-Christine Mecke 2021

Erschienen in Veit Sprenger (Hrsg.): Fanzine Level 20/21, Berlin (Geheim Verlag) 2021