Die Stimme eines Schmetterlings
Exotismus und Puccinis Musik für Madama Butterfly
Eine Frau zwischen zwei Kulturen
Es war überflüssig auf solche Ideen von ihr einzugehen, die dem fruchtbaren Hirn von Pinkerton entsprungen waren. Mit Sicherheit hatte er sein Eheleben mit ihr genossen, aber aus anderem Grund als sie. Der Konsul fand, man konnte sehen, wie ausgesprochen amüsant es gewesen war. Es war auch genau Pinkertons Stil, dieses zierliche, lebhafte, eifrige, formlose Material zu nehmen und es nach seinen schamlos skurrilen Vorstellungen zu formen.
John Luther Long, Madame Butterfly
In John Luther Longs Novelle Madame Butterfly hinterlässt Leutnant Pinkerton nach seiner Abreise eine deformierte Frau: In ihrem Bemühen, ihrem amerikanischen Mann zu gefallen, hat Cho-Cho-San Teile seines Verhaltens übernommen, ohne sie wirklich zu verstehen. Sie macht alberne Scherze im unpassendsten Moment, wiederholt seltsame Ansichten, die von Pinkerton irgendwann einmal sarkastisch geäußert wurden, und wechselt unvermittelt von japanischer Höflichkeit zu Pinkertons lässiger Unverschämtheit. Sowohl der amerikanische Konsul Sharpless als auch der japanische Heiratsvermittler Goro schwanken zwischen Mitleid, Amüsement und Erschrecken, wenn sie mit Cho-Cho-San interagieren – ähnlich wohl die Gefühle der meisten Leserinnen und Leser. Auch wenn Long seine Protagonistin überleben lässt, lässt er keinen Zweifel daran, dass Pinkerton sie zu einem Wesen geformt hat, dass weder in der japanischen noch in der amerikanischen Gesellschaft zuhause sein kann. Literarisches Zeichen für diese Verlorenheit zwischen den Kulturen ist die Sprache Cho-Cho-Sans: ein von falsch ausgesprochenen Yankee-Floskeln durchsetztes, fehlerhaftes Englisch.
In dem auf Longs Vorlage basierenden Theaterstück von David Belasco ging viel von der Charakterisierung Pinkertons verloren, weil die Handlung des Einakters erst lange nach dessen Abreise einsetzt. Das Publikum erlebt nicht, wie der verantwortungslose Leutnant sein „formloses Material“ modelliert, und es gibt nur wenige Hinweise darauf, wie das seltsame Verhalten der Hauptfigur zustande kommt. Auch verzichtete Belasco auf den ironischen Unterton der Geschichte und gab ihr ein tragisches Ende. Im Butterfly-Schauspiel nimmt die japanische Kultur eine dominante Rolle ein: Cho-Cho-San lebt in einem gänzlich japanisch ausgestatteten Haus, lediglich ein von Pinkerton zurückgelassenes Tabakgefäß ist mit einer amerikanischen Papierfahne geschmückt. Wenn sich der Vorhang öffnet, opfert Cho-Cho-San Blüten und Reis an einem buddhistischen Hausaltar. Ihre Beteuerungen, in einem „‘merican House“ zu leben, wirken in Anbetracht einer solchen Szenerie absurd. Das gebrochene Englisch der Hauptfigur behielt Belasco bei. Während die Hauptfigur in der Novelle offensichtlich in keine der beiden Kulturen mehr gehört, steht in Belascos Stück die Absurdität ihres Wunsches, als Amerikanerin betrachtet zu werden, im Vordergrund.
Als Giacomo Puccini sich entschloss, gemeinsam mit seinen Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa eine Oper aus dieser Vorlage (zunächst nur das Theaterstück, später wurde auch die Novelle hinzugezogen) zu machen, stand er vor der Aufgabe, eine musikalische Entsprechung nicht nur für den Handlungsort, sondern auch für die Kultur und Individualität der Hauptfigur zu erfinden.
Puccinis Suche nach japanischen Klängen
Torre del Lago, 10. Jänner 1902
Lieber Gigi [Illica],
[…] Nun bin ich nach Japan eingeschifft und werde mein Bestes tun, es zu erreichen, aber ein paar Noten populärer Musik hätten mich mehr interessiert als Veröffentlichungen über Sitten und Trachten! Ich habe so etwas gesucht und gefunden, aber es ist wenig und dürftig. […]
Grüße
G. Puccini
Japanische Musik war in Italien um 1900 nicht leicht verfügbar. Da Puccini mit den erhältlichen Noten nicht zufrieden war, kontaktierte er den belgischen Musikwissenschaftler Gaston Knosp, der sich zu dieser Zeit in Vietnam aufhielt und mit Informationen über japanische Musik aushelfen konnte. Außerdem traf sich Puccini im September 1902 mit Oyama Hisako, der Frau des japanischen Botschafters in Italien. Sie sang ihm Melodien vor, die er notierte. Außerdem beriet sie den Komponisten hinsichtlich einiger sprachlicher Fehler im Libretto, was jedoch folgenlos blieb. Oyama Hisako bemühte sich auch, ihm Aufnahmen mit japanischer Musik zu verschaffen, diese erreichten den Komponisten jedoch zu spät für seine Arbeit. Als weitere Inspirationsquelle dienten Aufführungen der Theatergruppe um Sada Yacco, die Puccini im Frühjahr 1902 in Mailand erleben konnte. Sie vermittelten Puccini nicht nur einen Eindruck von auf Originalinstrumenten gespielter Musik, sondern auch von japanischem Tanz und Theater. Nach Ansicht des Musikwissenschaftlers Arthur Groos hatte letzteres den größten Einfluss auf Madama Butterfly, allerdings aufgrund eines Missverständnisses: Die Gruppe präsentierte stark gekürzte Versionen bekannter Kabuki-Stücke und berücksichtigte dabei die Rezeptionsbedingungen des europäischen Publikums, das weder Japanisch verstand noch mit den mimischen und gestischen Zeichen dieser Theaterform vertraut war. Entsprechend wurde in den Aufführungen wenig gesprochen; die Handlung konzentrierte sich auf Kämpfe, Tänze und rituelle Selbstmorde, wobei letztere beim europäischen Publikum besonderes Interesse hervorriefen. Dies hatte zur Folge, dass ein verzerrter Eindruck vom japanischen Theater entstand. Viele europäische Besucher hielten es für grob und primitiv und gingen davon aus, dass im japanischen Theater alle Konflikte sehr schnell zu einem tödlichen Ende geführt werden. Als Puccini von seinem Besuch bei Sada Yaccos Truppe zurückkehrte, war er überzeugt davon, die geplante Oper drastisch kürzen und schneller zum rituellen Selbstmord der Hauptfigur kommen zu müssen. Er setzte gegen den Protest seiner Librettisten durch, auf den geplanten dritten Akt im amerikanischen Konsulat zu verzichten. An seinen Verleger Giulio Ricordi schriebt er am 16. November 1902: „Das mit dem Konsulat war ein großer Fehler. Das Drama muss ohne Unterbrechung, gedrängt, wirkungsvoll, entsetzlich einem Ende zulaufen.“
Trotz anfänglicher Schwierigkeiten konnte Puccini viele japanische Melodien zusammentragen und in seiner Partitur verwenden. Es handelt sich um Volkslieder und ähnliche populäre Melodien, darunter auch die japanische Nationalhymne „Kimi Ga Yo“. Sie erklingt beim Auftritt des japanischen „Imperialkomissars.“ In Europa noch bekannter war wohl das Lied „Miya Sama“ („Verehrter Prinz“), denn es war 1885 in der sarkastischen Operette Der Mikado von Gilbert und Sullivan populär geworden. Puccini nutzte es für den Auftritt des Prinzen (Fürsten) Yamadori, der ebenfalls nicht frei von komödiantischen Elementen ist.
Zusätzlich zu den gesammelten japanischen Motiven komponierte Puccini eigene Melodien und Motive im Stil der japanischen Elemente. Der Ursprung der einzelnen Melodien war lange ein musikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand, und erst 2012 konnten die letzten Rätsel gelüftet werden. Eine große Überraschung war der Ursprung des Motivs, das mit dem Seppuku von Cio-Cio-Sans Vater verknüpft ist und das mehrfach in der Oper mit patriarchaler Macht in Zusammenhang gebracht wird. Bisher hatte man angenommen, dass Puccini hier ein unbekanntes japanisches Lied variiert hatte, aber Anthony Sheppard fand heraus, dass der Komponist die Melodie durch eine mechanische Spieluhr kennengelernt hatte. Es handelt sich um ein chinesisches Lied.
Musikalischer Exotismus
Der Terminus „Exotismus“ beschreibt eine auf die Schauseite des musikalischen Satzes reduzierte Adaption außereuropäischer Musik, wobei die Imperfektion des Vorhabens den eigentlichen Wesenszug des Exotismus darstellt.
Thomas Betzwieser
Dass man sich so viel Mühe mit der Musik eines fremden Kulturkreises gab wie Puccini mit der japanischen Musik, war eine relativ neue Entwicklung. Über mehrere Jahrhunderte hatte sich die westliche Kunstmusik zwar gelegentlich „exotischer“ Elemente bedient, um einen allgemein „fremden“ Klangeindruck in die eigene Musik einzubauen, ganz gleich, ob die verwendeten Melodien, Instrumente oder Harmonien in der dargestellten Kultur wirklich eine Rolle spielten: „Grundsätzlich konnte jeder ungewöhnliche, ‚pittoreske‘, ‚barbarische‘, oder ‚primitive‘ Klangeffekt dazu herhalten, einer Partitur ‚exotisches‘ Kolorit zu verleihen,“ fasst es Michael Stegemann für das Lexikon Die Musik in Geschichte und Gegenwart zusammen.
„Türkische“ Musik galt dabei lange als das Paradigma des Exotischen, wobei mit „Türken“ prinzipiell alle Bewohner des Osmanischen Reiches gemeint sein konnten. Dank langer Etablierung in der westlichen Musik lassen sich die Kennzeichen des „Alla turca“-Stils recht klar beschreiben: Zu ihm gehören Unisonopassagen, Tonrepetitionen, rhythmische Ostinati sowie ein dominierender Schlagzeugapparat mit bestimmten Instrumenten, die zur Imitation der Janitscharenkapelle heranzogen wurden. Dieser Stil hatte wenig mit tatsächlicher türkischer Musik zu tun und viel mit dem Eindruck, den türkische Musik auf westliche Hörerinnen und Hörer machte, sowie mit dem „wilden“ Verhalten, das man Türken zuschrieb. Solche zunehmend konventionalisierten musikalischen Zeichen dienten in der Oper dazu, einen Handlungsort oder eine Figur als „fremd“ zu markieren. Andere Schauplätze wie China, Südamerika oder Indien spielten eine marginale Rolle, wobei auch diese wenig spezifisch durch exotistische Standards wie z. B. Unisonopassagen oder große Tonsprünge charakterisiert wurden.
Erst allmählich etablierte sich im 19. Jahrhundert ein Interesse, das Fremde hinsichtlich einzelner Nationalitäten zu differenzieren, eine musikalische „Coleure locale“ zu erfinden. Mit der Pariser Weltausstellung 1889 änderte sich das Verhältnis außereuropäischer Musik dann grundlegend. Musik aus weit entfernten Regionen, insbesondere aus den französischen ostasiatischen Kolonien war bei der Weltausstellung erstmals für Europäer zu erleben, und viele Komponisten fanden sich inspiriert, ähnliche Klänge, Harmonien oder Melodien in ihre eigenen Werke aufzunehmen. In dieser Art des musikalischen Exotismus waren die Elemente außereuropäischer Musik nur noch am Rande als Zeichen für die Fremdheit einer Figur, einer Landschaft oder einer Situation interessant. Vielmehr dienten sie als Inspiration für die Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel. Leere Quinten, Ganztonleitern und Pentatonik waren wichtige Elemente, die vor allem im musikalischen Impressionismus ausgelotet wurden.
In die gleiche Zeit fällt ein wachsendes Interesse für Japan in Westeuropa und Amerika. Nach der erzwungenen Öffnung des Landes für den internationalen Handel ab 1854 begannen sich nicht nur viele Japanerinnen und Japaner für europäische und amerikanische Kultur, Mode und Kunst zu interessieren, sondern auch in Europa erwuchs ein enormes Interesse an japanischen Kunstgegenständen. Insbesondere europäische Künstlerinnen und Künstler ließen sich von japanischer Malerei und Holzschnittkunst inspirieren. Im Zuge des Japonismus wurde Japan auch in Opern als Spielort und kulturelles Phänomen thematisiert, etwa in Camille Saint-Saëns’ La Princesse jaune (1872), Pietro Mascagnis Iris (1889), Messangers Madame Chrysanthème (1893), sowie Gilbert und Sullivans bereits erwähnte Operette The Mikado (1885). Puccini und seine Librettisten waren also keineswegs Pioniere, als sie sich ab 1901 an die Opernbearbeitung von Madama Butterfly machten.
Allerdings bereitete die japanische Musik dem europäischen Publikum weit mehr Probleme als die bildende Kunst. So schrieb der österreichische Fotograf Raimund von Stillfried, der lange in Japan lebte und dessen Portraits von Japanerinnen und Japanern die europäische Wahrnehmung des Landes geprägt haben: „Obwohl nun die japanische Musik nicht schön ist nach unseren Begriffen, so fanden wir doch stets, so oft wir verurteilt waren, z.B. einen japanischen Tanz anzuhören, einiges Analoge mit einem Wiener Walzer, beides geht nämlich in die Füße – das eine zum Tanzen – das andere zum Davonlaufen.“ Entsprechend zögerlich ging die Rezeption japanischer Musik durch europäische Komponisten vonstatten, oft beschränkten sich japanische Elemente auf wenige Melodiezitate oder den Einsatz von Pentatonik und Ganztonleitern.
Mascagni, mit dem Puccini ein inniges Konkurrenzverhältnis verband, instrumentierte Iris mit japanischen Instrumenten wie einer japanischen Laute (Shamisen) und japanischem Schlagwerk. Auch Puccini orientierte sich teilweise an japanischem Instrumentarium, beispielsweise setzt er ein japanisches Glockenspiel für die Trauungszeremonie ein. Auch Glocken und Tamtam verwendet er in der Absicht, japanische Klänge zu reproduzieren, ferner könnte man manche Stakkato-Passagen als Versuch verstehen, die Zupfinstrumente Koto (japanische Zither) und Shamisen anzudeuten.
Obwohl Puccini schon bei seiner ersten Begegnung mit Belascos Theaterstück gesagt hatte, dieses Werk enthalte „das wahre Japan und nicht Iris“, gebrauchte er japanische Musik eher als Rohstoff für sein Kunstwerk, nicht zur Herstellung von „Authentizität“ im heutigen Sinne. Selbst die Plausibilität der japanischen Elemente war keine entscheidende Kategorie für ihn, wie sich daran zeigt, dass die sprachliche Kritik der Botschafterfrau am Libretto keine Konsequenzen hatte. Im Libretto finden sich mehrere Verballhornungen und Missverständnisse, die markanteste in dem Fluch „Kami sarundasico“, der im Japanischen gar keinen Sinn ergibt – und das vermutlich gemeinte „Sarutahiko Ōkami“ ist kein buddhistischer Fluch, sondern ein shintoistischer Gottesname.
Wie Puccini die japanische Kultur zeichnet
Musikalischer Exotismus ist der Prozess, in oder durch die Musik (sei sie ‚exotisch‘ klingend oder nicht) einen Ort, Menschen oder ein soziales Milieu heraufzubeschwören, das nicht nur fiktiv ist und das sich im Hinblick auf die Einstellungen, Gewohnheiten und Sitten grundlegend vom „Heimatland“ oder der „Heimatkultur“ unterscheidet.
Ralph P. Locke
Puccinis Gebrauch musikalischer Exotismen – also von japanisch konnotierten Instrumenten, Tonfolgen und Harmonien – ist vielfach untersucht und kommentiert worden. Der amerikanische Musikwissenschaftler Ralph P. Locke hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Darstellung „exotischer Kultur“ durch Musik nicht unabhängig vom Kontext der Oper betrachtet, also allein auf den Klang reduziert werden kann. So ist beispielsweise die Musik, mit der sich Butterfly und ihre Freundinnen vor ihrem ersten Auftritt ankündigen, nicht im engeren Sinne exotistisch. Und doch wird Butterfly hier als zartes, geradezu schwebendes Wesen, eng verbunden mit ihren Freundinnen und mit der Natur ihres Heimatlandes charakterisiert. Erst im Kontext der Handlung (Goro kündigt die Ankunft eines „weiblichen Schwarms“ an, die Frauen erscheinen mit bunten Schirmen) und des Textes („Über das Meer und die Erde weht ein freudiger Frühlingswind“) wird daraus eine Charakterisierung japanischer Weiblichkeit, die den Spitznahmen „Schmetterling“ für die Hauptfigur ebenso zu rechtfertigen scheint wie Pinkertons Beschreibung seiner Braut als „leicht wie zartes geblasenes Glas, wie die Figur auf einem Wandschirm“ – übrigens exotistische Standard-Sprachbilder. „Praktisch alle asiatische Weiblichkeit wird hier auf eine Vision von Lieblichkeit reduziert, als wäre sie zum Vergnügen des westlichen Gaffers eingefroren worden,“ fasst Locke die Szene zusammen.
Während die musikalisch dargestellte Verletzlichkeit und Schönheit der Hauptfigur hier für Sympathie und Mitleid mit ihr sorgt (schließlich hat Pinkerton kurz zuvor angekündigt, diesem zarten Schmetterling notfalls „die Flügel zu brechen“), versetzt uns Puccini in die Situation von Pinkerton, wenn die übrigen Gäste erscheinen: Sie reden so schnell durcheinander, dass man den Inhalt des Gesagten kaum noch verfolgen kann. Außerdem wiederholen sie musikalische Motive scheinbar mechanisch, so dass sie sich zu starken Dissonanzen auftürmen. Damit erleben wir die Verwandtschaft ebenso wie Pinkerton als eine anstrengende, unverständlich daherredende Masse.
Einen ganz anderen Aspekt europäischer Vorstellungen von japanischer Kultur verkörpert der Auftritt von „Onkel Bonze“, also eines buddhistischen Priesters aus der Familie, nach der Hochzeitszeremonie. Dieser kündigt sich zunächst akustisch „mit seltsamen Schreien“ an und soll laut Regieanweisung auch „seltsam“ aussehen. Abgesehen von Schlägen des Tamtams ist auch diese Szene frei von musikalischen Exotismen, und doch wird der Onkel als extrem fremd dargestellt. Und noch etwas geschieht in dieser Szene: Blitzschnell ordnen sich die eben noch durcheinander redenden anderen Verwandten dem Urteil des Onkels unter, stimmen in die rituelle Verstoßung ein, schreien nun ebenfalls „Hou!“ und verlassen das Fest. Sie erscheinen damit als archaisch agierende, fremde Gesellschaft, ganz ohne exotistische Akkorde oder Tonfolgen. Dass Pinkerton die Familie gleich darauf als Cio-Cio-Sans „tribù“ (Stamm) bezeichnet, erscheint da nur folgerichtig – genauso wurden sie in der Oper charakterisiert.
Auch Pinkerton ist ein Fremder
Pinkerton ist eine Witzfigur – eine grausame Mischung aus nationalem Chauvinismus und ausbeuterischer Sexualität.
Susan McClary
Bei einem kritischen Blick auf exotistische Tendenzen in Madama Butterfly sollte man nicht vergessen, dass auch Leutnant Pinkerton für Puccini und sein zunächst italienisches Publikum zu einer fremden Kultur gehörte. Ebenso wie der japanische Beamte mit der japanischem Hymne vorgestellt wird, ertönt bei Erwähnung der Vereinigten Staaten „The star-spangled banner“, die heutige amerikanische Nationalhymne, die zur Entstehungszeit der Oper bereits offizielle Hymne der US Navy war, selbstverständlich nach Art einer Blaskapelle instrumentiert. Puccini reizte ausdrücklich die Darstellung der zwei fremden Welten Japan und Amerika, nicht zuletzt war deswegen auch ein Akt geplant, der in der amerikanischen Botschaft spielt. Während der Arbeit schrieb Puccini an Ricordi, er bemühe sich, „Herrn F. B. [sic] Pinkerton so amerikanisch singen zu lassen wie möglich“.
Im Text seiner ersten Arie „Dovunque al mondo“ setzt Pinkerton die Eroberung fremder Länder mit der Eroberung von Frauen gleich. Offenherzig bezeichnet er es als Lebensziel für den „Yankee“, sich zu amüsieren, Geschäfte zu machen und „eine Blume jeder Gegend“ zu pflücken, um diese Aussage dann umstandslos in die erste Person zu überführen. Puccini hat diese Arie im heiteren Dreiertakt in seinen Notizen als „Boston waltz“ bezeichnet, was einerseits Pinkertons Vergnügungssucht unterstreicht, andererseits Puccinis Absicht, im weitesten Sinne „landestypische“ Musik zu verwenden.
Dass Pinkerton seine eigene Auftrittsarie für die lässige Frage unterbricht, welches von zwei typisch amerikanischen Getränken er seinem Gast servieren lassen soll, hat auch einen komischen Aspekt – Pinkerton scheint sich nicht nur in Japan, sondern auch in der Gattung Oper nicht recht benehmen zu können. Auch seine Verführungskünste sind alles andere als subtil: Viermal unterbricht er seine Frau im Duett mit einem ungeduldigen „vieni!“ („komm!“), während sie den Sternenhimmel betrachtet. Gleichzeitig zwingt er sie mit musikalischen Mitteln dazu, auf einer höheren Tonstufe weiterzusingen und sich so scheinbar in die Ekstase eines Liebesduetts zu versetzen. Die Musikwissenschaftlerin Susan McClary kommt zu dem Schluss: „Puccini entwirft Leutnant Pinkerton als unmissverständlichen Flegel. Darüber hinaus berichten die anderen Figuren, dass er ein Flegel ist, und schließlich gesteht er seine Flegelhaftigkeit selbst. Er greift auf die schamlosten Ausdrücke von amerikanischem Patriotismus zurück und hüllt sich sogar selbst in ‚The star-spangled banner‘, um seine imperialistische Ausbeutung der Japaner im Allgemeinen und Cio-Cio-Sans im Besonderen zu rechtfertigen.“
Wir sollten nicht den Irrtum erliegen, Puccini und seine Mitstreiter hätten Pinkerton aus zeittypischen Gründen grundsätzlich anders bewertet. Dass ausgerechnet der Tenor im 1. Akt derart rüpelhaft auftritt, sahen die Librettisten von Anfang an kritisch und drängten darauf, ihm im 3. Akt ein größeres Gewicht zu geben, als Belasco es in seinem Schauspiel getan hatte. Illica schrieb an 1901 an Ricordi: „Betrachten Sie zur Untermauerung meiner Aussage die Angelegenheit des Tenors! Wehe! Vergessen wir’s! Pinkerton ist unsympathisch!“ In einem späteren Konflikt kurz vor der Uraufführung, als der Librettist Giacosa enttäuscht war, dass Puccini einige von ihm für Pinkerton geschriebene Zeilen nicht vertont hatte, bezeichnete Ricordi Pinkerton als einen „amerikanischen Drückeberger: Er ist nervös, fürchtet Butterfly, die Begegnung mit seiner Frau… und zieht sich zurück.“ Ein vollständig unsympathischer Tenor, der sich ohne Abtrittssarie verdrückt, widersprach den Konventionen der italienischen Oper aber doch zu sehr, und in den Umarbeitungen nach der unglücklichen Uraufführung bekam Pinkerton seine reumütige, aber weiterhin egozentrische Arie „Addio, fiorito asil“.
Eine Komödie der gescheiterten Assimilation?
Die Anfangsszenen des 2. Akts, in denen Butterfly mehrfach in Verlegenheit gebracht wird, lassen den Wunsch der Heldin nach einer Zukunft als Mrs. B. F. Pinkerton wenig aussichtsreich erscheinen. Dennoch bilden diese kleinen Szenen auch den Rahmen für Cio-Cio-Sans Kampf, dem Gefängnis des Orientalismus zu entkommen.
Arthur Groos
Wie zeichnet die Oper nun die verlassene Cio-Cio-San im 2. Akt, deren Charakterisierung sowohl in der zugrundeliegenden Novelle als auch in Belascos Einakter den größten Raum einnimmt? Die Schauspielvorlage enthält zahlreiche irritierende bis komische Momente, die zeigen, wie wenig Cio-Cio-San die amerikanische Kultur gemeistert hat. Viele davon bleiben im Opernlibretto erhalten – Arthur Groos bezeichnet diesen Aspekt des Librettos als eine „Komödie der gescheiterten Assimilation“. So äußert Cio-Cio-San zu Beginn des 2. Akts, dass „der amerikanische Gott“ sicher mächtig wäre, aber vielleicht nicht wisse, wo sie wohne, und ihr daher nicht helfen könne. Auch Situationskomik hat Illica im Libretto vorgesehen: Unmittelbar nachdem sie den Konsul in ihrem „amerikanischen Haus“ begrüßt hat, fällt dieser „auf groteske Weise“ auf ein japanisches Sitzkissen. Cio-Cio-San lässt ihre Dienerin eine Pfeife für den Gast vorbereiten und nimmt erstmal selbst einen Zug – worauf der Konsul die Pfeife ablehnt. Außerdem zeichnet das Libretto Cio-Cio-San als naiv oder sogar infantil: Sie scheint außerstande, abstrakte Ausdrücke wie „Ornitologie“ zu begreifen oder auch nur nachzusprechen. Und sie scheint Phantasie und Realität nicht auseinanderhalten zu können, so stark gerät sie in den Bann ihrer Vorstellungen. Ihre Reaktionen sind sprunghaft, „wild“ schwankt sie zwischen kindlicher Freude, Trauer und Wutanfall.
Zum Teil bestätigt Puccinis Musik diese Elemente. So erklingt betont „japanische“ Musik, wenn Cio-Cio-San gerade versucht, sich selbst als Amerikanerin zu präsentieren. Zweimal wird sie in der Oper als Madama Butterfly angesprochen, beide Male korrigiert sie die Anrede zu „Madama Franklin Pinkerton“, wobei ihre Korrekturen von der japanischen Melodie „O-Edo Nishinbashi“ („Die Brücke Nishinbashi in Edo“) begleitet wird, als wollte die Musik ihre Verwurzelung in Japan zum Ausdruck bringen. Während der kurzen Pfeifenszene erklingt das bereits erwähnte, als japanische Musik in Europa wohletablierte „Miya Sama“.
Von besonderer Bedeutung für die Charakterisierung Cio-Cio-Sans ist aber ihre Stimme. Schon bei der ersten, zufälligen Begegnung ist Sharpless vom „Geheimnis ihrer Stimme“ fasziniert und erkennt darin ernsthafte Liebe. Und auch wir, das Publikum, bekommen über Butterflys Stimme Kontakt zu ihrem Innenleben, das in seiner Komplexität weit über das hinausgeht, was ein traditionell exotistisches Frauenbild ihr zugestehen würde. Es ist Sharpless, der in seiner kurzen Diskussion mit Pinkerton universelle menschliche Gefühle hervorhebt und damit den Leutnant zurechtweist, der seine Braut mit einem Insekt vergleicht. Ihre Stimme ermöglicht es Sharpless, sich unabhängig von allen kulturellen Unterschieden in die Unbekannte hineinzuversetzen – nicht ohne Grund berichtet er, sie nur gehört, aber nicht gesehen zu haben. Allein, dass sie sich in großen Arien ausdrücken darf, erhebt sie über die „kleine Frau Schmetterling“, als die sie auch heute noch in manchen Opernführern bezeichnet wird. Allerdings dauert es eine Weile, bis Puccini ihr diese Möglichkeit gibt: Während sich Pinkerton im 1. Akt mit einer Arie einführen darf, wird Cio-Cio-San zunächst als Solostimme in einem Frauen-Ensemble eingeführt, anschließend beantwortet sie Fragen und Aufforderungen der europäischen Männer. Erst später, im Gespräch mit Pinkerton, verrät sie etwas mehr von sich. Schließlich „kulminiert Butterflys Versuch, eine westliche Identität zu konstruieren, in ihrer ersten Annäherung an eine Arie im westlichen Stil“, wie es Arthur Groos ausdrückt. In „Io seguo il mio destino“ berichtet Cio-Cio-San von ihrer Konversion zum christlichen Glauben. Auf dem Höhepunkt „Amore mio“ hält sie laut Regieanweisung inne, „als hätte sie Angst, von den Verwandten gehört zu werden“. In diesem Moment bricht im Orchester das (ursprünglich chinesische) Motiv hervor, das zuerst bei der Erwähnung des Schicksals ihres Vaters erklang. Auf diese Weise bringt die Musik erneut den Konflikt zwischen der von Cio-Cio-San gewünschten Identität als Amerikanerin und ihrer „Ursprungskultur“ zum Ausdruck. Gleichzeitig lässt Puccini uns eindrucksvoll mitfühlen, welches Risiko Cio-Cio-San mit diesem Schritt auf sich genommen hat.
Noch viel stärker wird die Identifikation der Musik mit der Protagonistin in ihrer großen Arie „Un bel dì“ im zweiten Akt. Zunächst aber sollten wir uns erinnern, dass Cio-Cio-San als Geisha ausgebildet wurde und entsprechend gelernt hat, Männer mit Schauspiel und Konversation zu unterhalten. In vielen Situationen besteht zumindest die Möglichkeit, Cio-Cio-Sans Verhalten als Teil einer sorgfältig gestalteten Inszenierung zu betrachten. Insbesondere das betont „kindliche“ Verhalten aus dem 1. Akt, die „Kinderstimme“, mit der sie singen soll, das Ratespiel um ihr Alter sowie der Kommentar „Ich bin schon alt“ könnten aus ihrem erlernten Geisha-Repertoire stammen.
Im 2. Akt spielt Cio-Cio-San gleich drei Szenen, die explizit als solche gerahmt sind: Neben „Un bel dì“ handelt es sich um eine Szene vor dem amerikanischen Scheidungsrichter, die sie für Sharpless, Yamadori und Goro inszeniert, sowie um der Monolog über ihre Zukunft als singende und tanzende Bettlerin in den Straßen von Nagasaki, den sie formal an ihren Sohn richtet, der tatsächlich aber für Sharpless bestimmt ist. Über diese explizit als gespielt markierten Szenen hinaus gibt es noch weitere Situationen, in denen Cio-Cio-San zumindest auch als Schauspielerin zu agieren scheint: In ihrer Verhandlung mit Yamadori und schließlich auch ihr Suizid, den sie so einrichtet, dass Pinkerton sie sterbend oder tot finden muss.
Die Unsicherheit darüber, in welchem Ausmaß Cio-Cio-Sans Äußerungen von ihr im Hinblick auf ihre Wirkung auf die zuhörenden Figuren kalkuliert sind, schwebt über dem ganzen Stück, in dem die Protagonistin nur für einen kurzen Moment unmittelbar vor ihrer Selbsttötung allein ist. Auch „Un bel dì“ ist kein Selbstgespräch: Cio-Cio-San macht ihre Zukunftsversion für ihre Dienerin Suzuki lebendig, die nicht mehr an dessen Rückkehr glaubt. Mit dem Befehl „Hör zu!“ beginnt Cio-Cio-San, mit „Dies alles wird passieren, das verspreche ich dir“ beendet sie ihre kleine Theaterszene, und es ist durchaus denkbar, dass diese Szene ein regelmäßig zur Stärkung der Wartemoral durchgeführtes Ritual zwischen den Frauen ist.
Die Arie ist gänzlich parallel zu Pinkertons „Dovunque al mondo“ aufgebaut: Auch diese Arie ist die erste im Akt, sie steht in der gleichen Tonart und im gleichen Takt, und beide Arien schildern die Fahrt eines Schiffs. Der Text von Cio-Cio-Sans großer Solonummer verweist erneut auf ihren sprunghaften, infantilen Charakter: Ebenso wie in den Vorlagen verliert sie sich distanzlos in ihrer Vorstellung, imaginiert ein kindliches Versteckspiel – allerdings nur „zum Teil aus Spaß und zum Teil, um beim ersten Wiedersehen nicht zu sterben“. Diesen – weder in der Novelle noch im Schauspiel vorhandenen – Teilsatz deutet Puccini mit einem dramatischen Höhepunkt aus, so dass die emotionale Musik die kokette Bemerkung zu einer tatsächlichen Möglichkeit werden lässt. Während John Luther Long, der Autor der Novelle, Cho-Cho-Sans Phantasie aus der Distanz beobachtet, und auch David Belasco eine komische Szene daraus macht, wie sie mit ihrer Dienerin die Ankunft ihres Mannes imaginiert, führt Puccini die Zuhörerinnen und Zuhörer hinein in die Phantasie der Protagonistin: Unbestimmt wie ein diesiger Blick aufs Meer beginnt die Musik in den leise gespielten hohen Streichern und Bläsern und in der Harfe. Erst mit den Worten „e poi la nave appare“ („und dann erscheint das Schiff“) bekommt die Musik ein solides Fundament. Der Salutschuss des Kriegsschiffes ist ebenso in der Musik zu hören wie die Erinnerung an Pinkertons Versprechen, im nächsten Frühling zurückzukehren. Es ist also nahezu unmöglich, der Phantasie Cio-Cio-Sans distanziert-amüsiert zu folgen, sie beim Hören nicht nachzuempfinden. Damit schließt Puccini den scheinbar unüberwindbaren Zwischenraum „zwischen den Kulturen“, in die die Protagonistinnen der Vorlagen geraten sind. Typische musikalische Exotismen wie Pentatonik, Unisono-Passagen lassen sich zwar finden, sind aber nicht prägend. Cio-Cio-San spricht keine andere Sprache als andere weibliche Heldinnen Puccinis. Ihre Gefühle und Vorstellungen sind uns nicht fremder als die von Floria Tosca, Manon Lescaut oder Schwester Angelica.
Ann-Christine Mecke
Erschienen im Programmheft der Wiener Staatsioper zu „Madama Butterfly“, Spielzeit 2020/21