Hui Sau!

Über »Eingriffe« in den Text der Entführung aus dem Serail

Pedrillos Ängstlichkeit ist ein Running gag des zweiten Aktes. Während der umständlichen Vorbereitungen der Frauenbefreiung zögert und zaudert er, bis es ihm selbst zu viel wird: „Es ist doch um die Herzhaftigkeit eine erzläppische Sache. Wer keine hat, schafft sich mit aller Mühe keine an! Was mein Herz schlägt! Mein Papa muss ein Erzpoltron [Riesenfeigling] gewesen sein“, stellt er fest, als er zur Mandoline greift, und man kann sich vorstellen, wie ihm dabei die Hände zittern. Als er Belmonte die Leiter hält, fasst er sich erneut ans Herz und kommentiert: „Es wird immer ärger, weil es nun ernst wird.“ Und natürlich ist Pedrillo auch derjenige, der sich nach seiner Gefangennahme die bevorstehenden Strafen in den leuchtenden Farben ausmalt: „Man macht schon alle Zubereitungen, um uns aus der Welt zu schaffen. Es ist erschrecklich, was sie mit uns anfangen wollen! Ich, wie ich im Vorbeigehen gehört habe, soll in Öl gesotten und dann gespießt werden.“ Seine Freundin Blonde antwortet hingegen tapfer: „Da es einmal gestorben sein muss, ist mir alles recht.“, worauf Pedrillo antwortet „Welche Standhaftigkeit! Ich bin doch von gutem altchristlichen Geschlecht aus Spanien, aber so gleichgültig kann ich beim Tode nicht sein!“

Sicher kam dieser Running gag bei der Uraufführung gut an. Nur einer hätte wohl nicht darüber lachen können, aber der war ohnehin nicht anwesend: Christoph Friedrich Bretzner, der Autor der Vorlage Belmont und Constanze oder Die Entführung aus dem Serail, denn Pedrillos ausgeprägte Ängstlichkeit ist eine Zutat von Johann Gottlieb Stephanie und Mozart. Bretzner war empört über die Bearbeitung, allerdings vor allem über die veränderten Gesangstexte. Im April 1783 ließ er folgende Protestnote in der Berliner Literatur- und Theaterzeitung abdrucken: „Es hat einem Ungenannten in Wien beliebt, meine Oper: Belmont und Constanze oder die Entführung aus dem Serail fürs K.K. Nationaltheater umzuarbeiten und das Stück unter dieser veränderten Gestalt drucken zu lassen. Da die Veränderungen im Dialog nicht beträchtlich sind, so übergehe ich solches gänzlich; Allein der Umarbeiter hat zugleich eine Menge Gesänge eingeschoben, in welchen gar herzbrechende und erbauliche Verslein vorkommen.“ Als Beispiel für die schlechten „Verslein“ zitiert Bretzner einen Auszug aus dem Quartett, die Passage, in der die Männer ihrer Sorge um die Treue ihrer Frauen Ausdruck verleihen, und schließt mit dem Ausruf „Das heiß ich verbessern!“ Vermutlich störte Bretzner in Wirklichkeit weniger der Wortlaut als die Tatsache, dass in Stephanies Text anders als bei ihm die Treue der Frauen ganz offen angezweifelt wird, doch eine Handhabe hatte er ohnehin nicht. Sein ohnmächtiger Protest bringt uns heute angesichts der historischen Bedeutung von Mozarts Singspiel nur noch zum Lachen. 

Dass der Librettotext für Mozart ein Gebrauchstext war, dem er keinen großen Wert beimaß, macht sein Brief an seinen Vater vom 26. September 1781 deutlich: „Das hui – habe ich in schnell verändert also: Doch wie schnell schwand meine freude etc: ich weiß nicht was sich unsere teutsche dichter denken; – wenn sie schon das Theater nicht verstehen, was die opern anbelangt – so sollen sie doch wenigstens die leute nicht reden lassen, als wenn schweine vor ihnen stünden. – hui Sau.“ Sein Librettist Stephani war für Mozart offenbar nur ein Handwerker, der sich seinen Wünschen zu fügen hatte: „alles schmolt über den Stephani – es kann seyn daß er auch mit mir nur ins gesicht so freundschaftlich ist – aber er arrangirt mir halt doch das buch – und zwar so wie ich es will – auf ein haar – und mehr verlange ich bey gott nicht von ihm!“

Unbestritten ist wohl, dass dieses Libretto ohne die Musik von Mozart längst vergessen wäre. Und so stellt sich bei jeder Aufführung die Frage, wie man mit den gesprochenen Dialogen umgehen soll, die eben nicht durch Musik veredelt werden. Es gibt Aufführungen, die sie ganz weglassen, und solche, die sie durch ganz neue ersetzen. Meistens aber begnügt man sich mit mehr oder weniger starken Kürzungen und Anpassungen. Von Pedrillos Hasenfüßigkeit blieb in der Textfassung der Wiener Staatsoper von 1991 nichts übrig, ebenso erging es den entsprechenden Passagen in der am Burgtheater aufgeführten Produktion von 2005. Auch andere komödiantische Szenen wie etwa die, dass die Wache zunächst den restalkoholisierten Osmin festnimmt, bevor sie die Flucht der Europäer vereitelt, entfielen in beiden Fassungen. Dabei verfolgte die Fassung von 1991 die Absicht, den Dialog so knapp wie möglich zu halten, die Sprache aber möglichst wenig zu verändern. Die Fassung von 2005 greift mit dem Ziel der größtmöglichen Verständlichkeit weit entschiedener in den Text ein und macht aus „Schurke, glaubtest du, mich zu betäuben?“ schlicht: „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ – dafür erhält diese Fassung insgesamt mehr Dialogtext und damit auch mehr Einzelheiten der Vorlage.

Die Strategien bei der Erstellung einer Textfassung sind unterschiedlich, doch dass Die Entführung aus dem Serail mit den vollständigen Dialogen der kritisch-wissenschaftlichen Edition aufgeführt wird, ist eine Rarität. Und das ist einerseits gut nachvollziehbar, denn oft wird in den Sprechtexten das gleiche verhandelt wie später im gesungenen Text, viele Formulierungen wirken ungelenk, und ob wir heute wirklich noch über den ängstlichen Pedrillo lachen könnten, dem die Standhaftigkeit seiner Freundin völlig abgeht? Oder über sein sexistisch angehauchtes Bekenntnis zum Alkoholismus? „Bin ich verdrüßlich, mürrisch, launisch: Hurtig nehm ich meine Zuflucht zur Flasche; und kaum seh ich den ersten Boden: Weg ist all mein Verdruss! – Meine Flasche macht mir kein schiefes Gesicht wie mein Mädchen, wenn ihr der Kopf nicht auf dem rechten Flecke steht; und schwatzt mir von Süßigkeit der Liebe und des Ehestands, was ihr wollt: Wein auf der Zunge geht über alles!“

Doch andererseits ist die Musik für genau diesen Text komponiert worden, und Pedrillos Zeilen im Schluss-Vaudeville „Wenn ich es je vergessen könnte // wie nah ich am Erdrosseln war // und all der anderen Gefahr; // ich lief, als ob der Kopf mir brennte“ sind besser nachvollziehbar, wenn man ihn schon zuvor als Hasenfuß erlebt hat. Und würde die Piano-Begleitung des Erkennungsliedchens „Im Mohrenland gefangen war“ nicht noch besser motiviert, wenn wir zuvor hören, wie Pedrillo seine fehlende „Herzhaftigkeit“ beklagt?

Jede Veränderung des Textes ist eine Entscheidung, die die ganze Aufführung betrifft – aber jede Nichtveränderung eben auch. Hätten Stephanie und Mozart den Schiffer Klaas weiter Plattdeutsch sprechen lassen wie in der Vorlage von Bretzner, hätte das Wiener Publikum der Szene nicht folgen können; bringt man heute den Sprechtext ungekürzt zur Aufführung, wird die Geschichte umständlich, repetitiv und mit vielen schwer verständlichen Ausdrücken erzählt. Es gibt für dieses Problem keine unschuldige Lösung – Rettung kann nur in einem kreativen Zugriff liegen, der das Zusammenwirken von Musik, Text und Szene berücksichtigt.


Erschienen im Programmheft der Wiener Staatsoper zu Die Entführung aus dem Serail, Spielzeit 20/21