Ein halbdokumentarischer deutscher Märchenwald in Ruanda

Programmhefttext zu Kirill Serebrennikovs Hänsel und Gretel-Film

»Nichts hab ich zu leben, kein Krümchen, den Würmern zu essen zu geben. […] Müde bin ich – müde zum Sterben – Herrgott, wirf Geld herab.« Man mag über die literarische Qualität des Hänsel und Gretel-Librettos geteilter Meinung sein, aber mit der knappen und schmucklosen Klage der Mutter ist Adelheid Wette und ihren Mitarbeitern Hermann Wette und Engelbert Humperdinck ein bewegender Ausdruck der sozialen Notlage der Familie gelungen. Engelbert Humperdinck hat sie ebenso schlicht und wirksam vertont. Doch bei aller Empathie, die sie im besten Fall hervorruft: Die Not der Familie in Hänsel und Gretel dient vor allem der Illustration des gesellschaftlichen Milieus, dem »Kolorit« für die Handlung, weniger der Kritik sozialer Zustände. Illustriert mit Bildern wohlgenährter Sängerinnen in romantisch wirkenden Besenbinderhütten kann die Klage der Mutter daher leicht zu einer pittoresken Erinnerung an überwunden geglaubte Probleme werden. Kirill Serebrennikov entschied daher schon zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Oper, den Hunger der Familie in Afrika zu suchen. Zwar gibt es auch im heutigen Deutschland Armut, noch mehr in anderen Teilen von Europa, aber nur selten nimmt sie die von der Mutter beschriebene Form an. Serebrennikov erinnert uns daran, dass existentielle Armut in vielen Teilen der Welt Realität ist, dass uns die Klage der Mutter millionenfach vor allem aus Südasien und dem subsaharischen Afrika entgegenschallen könnte.

Aus der ersten Idee »Afrika« wurde im Laufe der weiteren Planungen der kleine, dicht bevölkerte Binnenstaat Ruanda, den die Welt vor allem mit dem Völkermord von 1994 in Verbindung bringt. Das Trauma dieses Völkermords, bei dem innerhalb von drei Monaten ca. 800.000 Menschen auf grausame Art ermordet wurden, lastet bis heute spürbar auf der Bevölkerung. Hinsichtlich Armutsbekämpfung, Alphabetisierung, Infrastruktur, Behördenzuverlässigkeit etc. hat sich das Land seitdem nicht nur wieder erholt, sondern erhebliche Fortschritte gemacht. Dies geschieht allerdings in einem autokratischen System, das keine Demonstrationsfreiheit und keine Pressefreiheit kennt und auch keine historisch-kritische Aufarbeitung der vielschichtigen Ursachen und Folgen des Völkermords duldet.

Fernsehbilder, Plakate von Hilfsorganisationen oder auch Sprüche wohlmeinender Erziehungsberechtigter über die »hungernden Kinder in Afrika« haben viele von uns mit der irrigen Vorstellung aufwachsen lassen, ein ganzer Kontinent sei hauptsächlich von hungrigen Kindern mit Fliegen in den Augenwinkeln und apathischen Gesichtern bewohnt. Kirill Serebrennikov nutzt diese Prägung, wenn er die hungernde Familie für seinen Märchenfilm »in Afrika« sucht. Er konterkariert unsere Vorstellungen jedoch durch die quasi-dokumentarische Form seines Films: Kameramann Denis Klebleev und Kirill Serebrennikov arbeiteten mit vorgefundenen Situationen und spontan engagierten Statisten, die sich ohnehin an den Drehorten wie Kneipe, Seeufer oder Fu ßballkino aufhielten. Die Haupthandlung des Films wurde dann mit den Darstellern inszeniert, von denen nur Vater und Mutter auch professionelle Theater- und Filmschauspieler sind. Die Darsteller improvisierten gesprochene Texte, wobei die Regieanweisungen zwischen detaillierten Vorgaben und groben Situationsbeschreibungen variierten. Oft griff Serebrennikov kurzfristig Vorschläge und Angebote von Darstellern oder Passanten auf und integrierte neue Szenen in die Dreharbeiten. In gewisser Hinsicht bilden die Filmbilder also heutige ruandische Realität ab, die unseren Afrika-Klischees oft nicht entspricht. Der erste Eindruck des fruchtbaren, gut organisierten und sehr sicheren Landes kann die Probleme der dort lebenden Menschen sogar vergessen lassen. Aber noch 2017 belegt das Land in der Statistik der Welthungerhilfe, die den Anteil unterernährter Menschen, Kindersterblichkeit und verschiedene Anzeichen von Unterernährung bei Kindern berücksichtigt, den 100. Platz von 120 erfassten Ländern und ist damit ein Land, dessen Ernährungssituation von der Welthungerhilfe als »ernst« eingestuft wird. Diese Situation hat mit den geographischen Voraussetzungen des Landes, mit den Folgen von Krieg in den Nachbarländern, aber auch mit seiner kolonialen Vergangenheit zu tun (Ruanda gehörte bis 1919 zu Deutsch-Ostafrika, danach bis zur Unabhängigkeit 1962 zur Belgischen Kolonie Ruanda-Urundi). Entscheidend für die heutige wirtschaftliche Lage von Ruanda sind jedoch auch die globalen Wirtschafts- und Machtverhältnisse, von denen wir Europäer täglich profitieren.

Es gehört zur Ausübung dieser Machtverhältnisse, dass wir Europäer afrikanische Länder vor allem als hilfsbedürftige Problemgebiete wahrnehmen und afrikanische Kunst und Literatur, Unternehmergeist und Professionalität ignorieren. So ist jede Darstellung, die die Ungleichheit zeigen möchte, in Gefahr, diese Ungleichheit dadurch zu zementieren, dass sie ein verzerrtes Bild von »Afrika« weiterträgt. Serebrennikovs Film wagt also mit seinem Hänsel und Gretel-Film eine Gratwanderung, auf der das Team von ruandischen Kollegen der freien Theatergruppe Mashirika begleitet wurde. Auch wenn Ruanda für Kirill Serebrennikov nur beispielhaft für ein Land des globalen Südens steht, war es wichtig für ihn, konkrete Lebensumstände darzustellen und sich von der Realität überraschen zu lassen, anstatt eigene Vorstellungen zu bestätigen. Auch die jüngere Geschichte Ruandas greift Serebrennikov in der Engel-»Pantomime« nach dem Abendsegen auf. Unabhängig vom dokumentarischen Stil des Films handelt es sich selbstverständlich um ein aus europäischer Perspektive inszeniertes Kunstwerk. In ihm wird eine romantische deutsche Oper versuchsweise an einen uns fremden Ort transportiert. Im Produktionsprozess wurde den ruandischen Darstellern eine ihnen fremde Kunstform und eine ebenso fremde Geschichte vorgegeben. Die Reibung zwischen ruandischem Alltagsleben und deutscher Musik, zwischen ruandischer Realität und europäischen Vorstellungen von »Afrika« soll irritieren und überraschen.

Indem wir den ruandischen Figuren die Stimmen einer beliebten deutschen Oper leihen, bieten wir den größtenteils deutschen Zuschauern eine ungewöhnliche Identifikationsmöglichkeit mit den Filmfiguren an. Gleichzeitig nehmen wir unseren ruandischen Kollegen aber auch die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten mit eigenen Mitteln zu erzählen. In der für ihn typischen Doppelbödigkeit wird Kirill Serebrennikov in seiner Inszenierung – wann immer sie realisiert werden kann – die Frage stellen, ob die eigentliche Hexe nicht der Regisseur dieses Experiments ist. Für die heutige Aufführung, die diesen Aspekt der Inszenierung nicht zeigen kann, gaben wir Ariane Gatesi (Gretel) und David Niyomugabo (Hänsel) in einigen Unterbrechungen ihre eigenen Stimmen und Standpunkte zurück.


© Ann-Christine Mecke 2017 | erschienen im Programmheft der Oper Stuttgart zu Hänsel und Gretel

Beitragsbild: Ariane Gatesi (Gretel) und David Niyomugabo (Hänsel) in einer Filmszene, Kamera: Denis Klebleev