Sauerstoffmangel

Historisch informierte Aufführungspraxis beschränkt sich nicht mehr auf Darmsaiten und Verzierungstechniken. Inzwischen gilt es, dem Konzerterlebnis der Uraufführung in jeder Hinsicht so nahe wie möglich zu kommen. Die Beleuchtung ist dabei ein entscheidender Faktor. Thomas Alva, Inhaber von »HILD – Historisch informiertes Lightdesign«, erzählt uns die Geschichte seiner Firma: »Ich war schon immer ein Fan von historischer Aufführungspraxis. Irgendwann bekam ich dann mal den Auftrag, das Licht für ein Konzert mit Barockmusik zu gestalten. Da habʼ ich die Veranstalter von Kerzen überzeugt. Das war zwar stimmungsvoll, aber noch ganz naiv gedacht. Nach mehreren solcher Konzerte habe ich mich gefragt: Was für Kerzen, Bienenwachs oder Rindertalg? Talg gibt eine ganz andere Atmosphäre wegen des Geruchs. Das beeinflusst das Konzerterlebnis doch erheblich! Also habe ich recherchiert und für jedes Stück die passenden Kerzen ausgewählt – manchmal zusätzlich Pechfackeln an den Wänden.

Das in Einklang mit modernen Sicherheitsanforderungen zu bringen, ist eine Herausforderung. Ich gehe da bewusst an die Grenze: Natürlich will ich die Zuhörer nicht umbringen, aber wenn das Publikum bei der Uraufführung unter Sauerstoffmangel gelitten hat, dann gehört das doch irgendwie auch zu dem Werk, oder? Irgendwann kamen auch Anfragen für Repertoire aus dem 19. und 20. Jahrhundert, da musste ich mich in Sachen Öllampen und Gasleuchten fortbilden. Es ist unglaublich, was historisches Licht für einen Unterschied macht! Einerseits beeinflussen Lichtstärke und -farbe direkt das Hörerlebnis. Andererseits fügt sich das Knistern oder Pfeifen der Leuchtmittel in die Musik ein – und dieses Geräusch war ja bei der Komposition irgendwie mitgedacht! Jetzt wünsche ich mir nur noch, dass das Publikum mitmacht und nicht nur auf Smartphones, sondern auch auf Gleitsichtgläser und Deodorant verzichtet.«


© Ann-Christine Mecke 2020 | erschienen im Gewandhausmagazin 109 (Dezember 2020)