Auch du erinnerst mich an jemanden
Zu Philippe Boesmans „Reigen“ in der Inszenierung von Nicola Hümpel
Das Ende
Am Ende erwachen wir gemeinsam mit dem Grafen: verwirrt, verkatert, verloren. Wie Kopfschmerzen melden sich die Piccoloflöten mit immer dem gleichen Vorhalt (Notenbeispiel 1).
Dazwischen Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit anderer: Die traurige Trompetenmelodie, die die Begegnung von süßem Mädel und Gatte begleitete, erhebt sich noch einmal in den Bratschen (Notenbeispiel 2). Das »Lied der ewigen Liebe«, das in mehreren Szenen ein Miteinander versprach, das nie stattfand, klingt grübelnd in der Bassklarinette an. Später hören wir musikalische Motive des Ehepaars; und sogar der Bachchoral, der die wiedererwachte Potenz des jungen Manns triumphierend untermalte, lacht erschöpft über die Schlappheit des Grafen.
Aber in der Benommenheit eines verkaterten Morgens ist das alles nicht leicht zu identifizieren: Die gedämpften Trompeten, die mit Flatterzunge gespielten Flöten, die vielen Terzen, die brummend abstürzende Bratschenmelodie – welche Paare brachten die noch gleich in den Reigen ein? Die Klangfarben und Motive der verschiedenen Begegnungen scheinen einander plötzlich alle zu ähneln, so wie sich im Verlauf des Reigens die Menschen und Situationen gleichen. Immer wieder stellen Figuren fest: »Du erinnerst mich an jemanden.« Kein Wunder, denn alle ergehen sich in den gleichen Floskeln, Entschuldigungen und Komplimenten. Sex ist eine Variation des immer Gleichen: Werben, Vögeln, Weiterziehen. Konventionen und Reflexionen überlagern den biologischen Trieb nur vordergründig, auch hier sind die Variationen beschränkt. Kaum jemand stellte die gleichförmige Mechanik des Geschlechtsverkehrs und seiner Vor- und Nachbereitungen so bloß wie Arthur Schnitzler in seinem Theaterstück von 1896/97 – und doch konnte auch er nicht vom Sex lassen, gerade er nicht.
»Warst du schon einmal hier?« Die Antwort auf diese Frage darf nicht »ja« lauten, genauso wie auf »Wie vielen haben Sie das schon gesagt?« nur die Antwort »niemandem« zulässig ist. Trotz der Gleichförmigkeit des Akts soll jede Begegnung einzigartig sein. Die Vorstellung, dass die gleichen Komplimente schon einer anderen galten, der gleiche Augenaufschlag schon an einen anderen gerichtet wurde, vielleicht sogar gewohnheitsmäßig eingesetzt wird, erscheint unerträglich. Und so müssen wir uns selbst und einander anlügen, um die Routine der Biologie erträglich zu machen. »Lügnerinnen liebt man nicht«, erklärt der Gatte seiner Frau und lügt sie damit an.
Ein Paar im Reigen durchbricht diese Logik. Der Gatte und das süße Mädel sind die vielleicht unwahrscheinlichsten Kandidaten für einen Moment der Aufrichtigkeit. Ihr Treffen bewegt sich in jenem Randbereich der Prostitution, in dem es dazugehört, dass beide einander etwas vormachen: Er ihr, dass es ihm nicht um Sex ginge, und sie ihm, dass sie es nicht auf Geld, Essenseinladungen und Geschenke abgesehen hätte. Ausgerechnet diese beiden Personen erzählen sich zumindest vage von ihrer Vergangenheit, und vor allem: Sie hören sich wenigstens einen Moment lang zu. Der Komponist Philippe Boesmans hat für dieses ungleiche Paar die schönste Musik geschrieben: Ein jazziges, unendlich trauriges Saxophonsolo, das von gedämpften Trompeten beantwortet wird (Notenbeispiel 3).
Das Lied der ewigen Liebe
Arthur Schnitzler beschränkte sich in seinen zehn Szenen auf die Darstellung des »davor« und »danach«, den eigentlichen Geschlechtsverkehr deutete er nur mit Gedankenstrichen an. Der Komponist hingegen bekennt Farbe und schreibt für jedes Paar eine Musik des »Zusammenseins«. Danach setzt der Dialog mit gesprochener Sprache ein, ernüchtert, enttäuscht und erschöpft.
Luc Bondy, der auch Regisseur der Opern-Uraufführung 1993 war, verfasste das Libretto zu Reigen. Vor allem kürzte er dafür den Text von Schnitzler, und aus der Schauspielerin des Theaterstücks wurde eine Sängerin. Aber Bondy fügte auch einen entscheidenden Text hinzu: Das »Lied der ewigen Liebe«, das auf dem Hohelied des Alten Testaments basiert. Boesmans macht einen ruhigen, süßen und vor allem terzenreichen Gesang daraus. Diese Musik scheint stets die Utopie einer anderen, gelungeneren Begegnung zu verkörpern. Er verbindet die meisten Figuren miteinander: Soldat und Stubenmädchen hören diesen Gesang aus der Dunkelheit, der junge Herr und die junge Frau aus dem Nebenzimmer; in der Zusammenseins-Musik von Graf und Sängerin klingt sie an, der Dichter träumt mit ihr von einem anderen Zusammensein mit dem süßen Mädel. Gesungen aber wird das »Lied der ewigen Liebe« ausgerechnet von Dichter und Sängerin, die sich eher zu einem Zweikampf als zum Liebesspiel treffen. So entlarvt Boesmans selbst das Gras auf der anderen Seite des Hügels als mager.
Es ist bezeichnend für Boesmans’ Komposition, wie er diesen Gesang einführt: Am Anfang steht die Dirne, die den Soldaten mit einer einfachen Verzierung, einer dreitönigen Drehbewegung anlockt. Der Soldat macht sich darüber lustig, indem er diese Figur nachahmt. Später erweist sich diese Verzierung als Teilstück des »Lieds der ewigen Liebe«. Ein anderes Teilstück singt das Stubenmädchen noch auf die Worte »Es ist so dunkel. Ich krieg Angst«, kurz bevor das andere Paar das Lied vervollständigt. So entsteht zunehmend der Eindruck, alle Paare seien miteinander verbunden.
Auch an anderer Stelle geht die Oper deutlich über das Theaterstück hinaus: Bereits bei Schnitzler wandern Requisiten wie Kerzen, Zigarren und Bücher durch mehrere Szenen, so wie sich Floskeln und Gesprächsthemen wiederholen. Boesmans verbindet die Szenen und Paare zusätzlich durch das »Lied der ewigen Liebe« und kleinere musikalische Motive, Gesten und Klänge. Auch zusätzliche Figuren und Auftritte führt der Komponist ein: So wandert die Mücke, die den jungen Herren im Haus seiner Eltern belästigt, mit ihm in das Stundenhotel zur jungen Frau. Der Dichter ist beim Treffen der Sängerin mit dem Grafen telefonisch anwesend – Philippe Boesmans lässt ihn akustisch durch eine Posaune mit Wa-Wa-Dämpfer vertreten. Diese »Engführung« des Reigens intensiviert Nicola Hümpel in ihrer Stuttgarter Inszenierung weiter : Sie deutet durch Requisiten und vorbeilaufende Personen einen zweiten Reigen an, der versteckt vor uns abläuft.
Die »Musik vom Zusammensein« ist nicht unbedingt der intensivste musikalische Moment einer Szene. So ist die Sehnsucht, die den jungen Herrn und das Stubenmädchen überfällt, als sie ihm ein Glas Wasser holt, weit ekstatischer ausgestaltet als der kurze Geschlechtsverkehr. Hier vertonte Philippe Boesmans sogar lieber das Zusammensein zweier Mücken, denen er ironischerweise auch noch das fragwürdige Liebesduett aus Claudio Monteverdis L’ Incoronazione di Poppea in den Mund oder besser in die Flügel legte. Die Sehnsucht aller Figuren ist erheblicher größer als das, was ihr Gegenüber ihnen tatsächlich geben kann.
Boesmans liebt die Ironie, den musikalischen Kommentar und zuweilen auch das direkte Zitat: Als der junge Herr im zweiten Anlauf endlich eine Erektion hat, kommentiert das Orchester diesen Erfolg mit dem Choral »Was Gott tut, das ist wohlgetan« mit schmetternden Trompeten. Und das nervöse Nähmaschinen-Fugato, das bereits die aufgeregten Vorbereitungen des jungen Herrn begleitet hatte, entpuppt sich plötzlich als passende Begleitung für dieses Kirchenlied.
Der junge Herr war es auch, der sich bereits mit dem verballhornten Salome-Zitat »Man töte diese Mücke« vorgestellt hatte. Die Ehepaar-Szene wird fast ausschließlich von Streichern begleitet – aufgeteilt in zwei Streichquartette und ein kleines Streichorchester, als hätte jeder Ehepartner ein kleines Hausmusik-Ensemble auf dem Nachttisch. Spricht der Gatte aber von »Reinheit und Wahrheit«, macht die Begleitung aus seiner eigentümlichen Liebesphilosophie eine Wagner-Parodie.
Philippe Boesmans betonte in einem Interview, dass seine Oper nur über seine Inspirationsquelle, den Text funktioniert. Feingliedrig interpretiert und kommentiert seine Musik äußerungen und Reaktionen. Aber sie ist vor allem auch Theatermusik, die aus der szenischen Situation entsteht oder sie zeichnet : Der Soldat pfeift Melodiefetzen eines Militärmarsches, beim jungen Herrn scheint jemand an der Tür zu klingeln (»Vielleicht ist es Doktor Schüller gewesen?«), vor dem Fenster von Dichter und Sängerin zirpen die Grillen. Die Party, bei der sich Soldat und Stubenmädchen kennenlernen, wird durch »bratwurstfette« Tanzmusik dargestellt, die während des Spaziergangs der beiden bald in der Ferne verschwindet und erst dann wieder aufschimmert, wenn der Soldat erneut tanzen geht. Boesmans Musik ist eine nervöse Musik voller Gegensätze: Expressivität und Schroffheit treffen aufeinander, kontrastierende Klänge und Spielweisen stehen unvermittelt nebeneinander.
Schade, dass du nichts anderes bist
Das alles erinnert auch musikalisch an die Welt von Schnitzlers Reigen: an die Musik der Wiener Schule und an ihre »Klangfarbenmelodie«, und ganz besonders an Alban Berg, auch wenn Boesmans sich jeder strengen Form verweigert. Aber Boesmans Hommage nimmt mit großer Selbstverständlichkeit auch jüngere Einflüsse auf und wird so zu einer zeitlosen Theatermusik. Mit dieser Musik erweisen sich auch Schnitzlers Charaktere jenseits aller zeitbedingten Prüderie als heutige Personen. Gewiss, manche Konvention und manche Scham erscheint heute überwunden, nicht verschwunden ist jedoch die Diskrepanz zwischen sexuellen Wünschen und Realität.
Heute sind viele sexuelle Spielarten akzeptiert, Informationen und Pornographie sind einfach zu bekommen, und die Aufnahme unverbindlicher Sexualkontakte wird über soziale Netzwerke wie »Tinder« vereinfacht. Zusätzliche Möglichkeiten können die eigene Festlegung aber auch erschweren. In einem Experiment konnten sich nur 3% der Einkäufer für eine Marmeladensorte entscheiden, wenn sie die Wahl zwischen 24 Sorten hatten. Bei nur sechs Sorten trafen 30% der Einkäufer eine Wahl. Ein einleuchtender Vergleich, nicht wahr? Aber wie weit sind wir gekommen, wenn wir die Begegnung mit anderen Menschen so selbstverständlich mit der Wahl eines Produkts vergleichen? Wer so denkt, muss sein Gegenüber anlügen, wenn er von der Einzigartigkeit der Begegnung spricht. Vielleicht gibt es deswegen zunehmend Gegenbewegungen von religiösen Gruppen, von asexuell empfindenden Menschen und die meist verschwiegene ganz alltägliche Lustlosigkeit. »Pornoprüde « nennt die Regisseurin unsere Gesellschaft.
Und so erwachen wir gemeinsam mit dem Grafen: verwirrt, verkatert, verloren. Szenen, Requisiten und Musik haben sich angehäuft und erscheinen austauschbar. Der Reigen hat sich geschlossen, ohne dass es zu einer wirklichen Begegnung gekommen wäre. Wir trafen zehn kontaktgestörte Personen, die geliebt werden wollen, die aber nicht in der Lage sind, selbst zu lieben. Wir erlebten zehn Rendezvous, in denen sich mindestens einer der beiden einen anderen Partner oder andere Umstände wünschte: »Schade, dass du nichts anderes bist.« Aber am Ende steht der Graf auf und verlässt das einsame Schlafzimmer. »Das Leben geht weiter«, schrieb Philippe Boesmans unter die Partitur.
© Ann-Christine Mecke 2016 | erschienen im Programmheft der Oper Stuttgart zu Reigen.
Beitragsbild: Andrè Morsch (Graf), Michael Shapira (Mann im Video), Foto: A. T. Schaefer.