Benjamin Britten, Thomas Mann, das Meer und die Philosophie

… don’t worry, and remember, there are lovely things in the world still – children, boys, sunshine, the sea, Mozart, you and me.
Peter Pears 1948 / 49 an Benjamin Britten

Endlich, der langersehnte Strandurlaub. Auf der Hinfahrt gab der Weg noch keinen Blick auf das Wasser frei, aber nun führt Sie die Rezeptionistin in das Zimmer mit Meerblick, das Sie sich (für Schwaben: ausnahmsweise) gegönnt haben. Sie öffnen den Vorhang, und da ist es: das Meer! Das entspannte Durchatmen, dass sich beim Anblick auf den Horizont meist einstellt, scheint Benjamin Britten gut gekannt zu haben: Er verband Aschenbachs ersten Blick auf den Strand mit einem weit ausgreifenden Motiv, das sich erst in die Höhe schwingt, um in Terzschritten gelöst wieder nach unten zu sinken. »And look, Signore, the view!« sagt der Hotelmanager dazu, »Und schauen Sie, mein Herr, die Aussicht!«

Noch einmal preist der Hotelmanager den Ausblick, wieder schwingt sich das Thema auf, das in der Literatur meistens das »Aussichtthema« (view theme) genannt wird, weil es mit diesem Wort zusammen eingeführt wird. Dieser Name scheint allerdings gleichzeitig zu eng und zu weit gefasst für das, was mit dieser Musik verbunden ist: Zu weit gefasst ist er, weil sich Aschenbach eben nicht irgendein Ausblick zeigt, sondern der auf das Meer und den Strand. Entsprechend begleitet das Thema Aschenbachs erste Grübeleien beim Blick aus dem Fenster (»But there is the sea« – »Aber da ist das Meer«), seinen ersten ebenso wie seinen letzten Besuch am Strand, und die Rückkehr auf das Meerblick-Zimmer nach der vereitelten Abreise. Auch als der Hotelmanager am Ende des Sommers resümiert: »When guests arrive at my splendid hotel I welcome them, I show them the view« (Wenn Gäste in mein glanzvolles Hotel kommen, begrüße ich sie, ich zeige ihnen die Aussicht), erinnert uns das musikalische Motiv an diese Situation. Dabei verändert sich das Motiv im Laufe der Oper erheblich: Von dem gravitätischen, mit sattem Streicherklang unterlegten Aufatmer beim ersten Ausblick aus dem Fenster bleibt beim letzten Strandbesuch nur eine einsame Flöte zurück, die Spielanweisung für sie lautet: »kalt«.

Zu eng gefasst scheint der Name »Aussichtsmotiv« zunächst deshalb, weil es keineswegs nur bei optischen Eindrücken des Meers erklingt: Nachdem der Hotelmanager Aschenbach die schöne Aussicht gezeigt hat, schaut der nämlich nicht hinaus, sondern er lauscht den Klängen des Meers: »How I love the sound of the long low waves, rhythmic upon the sand …« (Wie ich den Klang der langen flachen Wellen liebe, rhythmisch auf dem Sand …) Die herabsinkenden Terzen verwandeln sich vor unseren Ohren in regelmäßig heranrollende kleine Wellen; Aschenbach schließt die Augen, bis er von dem Gewusel der anderen Hotelgäste aufgeschreckt wird.

Zu eng erscheint der Name »Aussichtsmotiv« aber auch deshalb, weil es auch in ganz anderen Situationen zu hören ist: Nach Aschenbachs Sokrates-Monolog, in dem er zu dem Schluss kommt, dass die Suche nach Schönheit zwangsläufig in den Abgrund führt, erklingt das Motiv in einem fatalistischen Bläserchoral, als würden die Posaunen zum jüngsten Gericht rufen – von Meer oder schöner Aussicht ist hier keine Rede. Noch seltsamer eine andere Situation: Aschenbach verfolgt die polnische Familie durch die Stadt, verliert sie aus den Augen und trifft sie plötzlich an einer Straßenecke wieder: Das »Aussichtsthema « fährt wie ein Messer in die Situation, eine betretene Pause folgt. Um den Namen des Motivs zu retten, könnte man zwar anführen, dass auch der überraschende Blick auf Tadzio und der metaphorischen Blick in den Abgrund eine Art Aussicht darstellen, doch wirft dies nur die Frage auf, warum Britten diese unterschiedlichen Arten von »Aussichten« und den Klang des Meeres musikalisch so eng verbindet.

Welches Meer?

Benjamin Britten und das Meer – das ist eine besondere Beziehung, und zwar fast von Geburt an. Britten wuchs in einem Haus direkt an der Nordseeküste auf und wählte seinen neuen Lebensmittelpunkt nach seinem Amerikaaufenthalt nur einige Kilometer nördlich von seinem Herkunftsort. Wenn das Haus in Aldeburgh auch nicht mehr direkt am Wasser lag, so bekam er es doch weiterhin jeden Tag zu sehen. Wenn möglich, sprang er täglich in die kalte Nordsee, bei Bedarf auch nachts. In vielen Kompositionen Brittens spielt das Meer eine bedeutende Rolle, am prominentesten wohl in der Oper Peter Grimes, in der das Meer stets auch das Innenleben der Titelfigur verkörpert. Das oft stürmische, graue Meer der englischen Nordseeküste, das Klirren der Wellen am Kieselstrand und die Schreie der Seevögel machen »Brittens Meer« aus.

Die ruhige Adria, die Aschenbach aus seinem Hotelzimmer sieht, ist ein ganz anderes Kaliber: Auf der Hinfahrt erscheint das Meer Aschenbach in Manns Novelle als »ungeheure Scheibe des öden Meeres« um ihn herum, bei der Ankunft »trüb und bleiern«, später nur als »das Blaue«. Auch Thomas Mann hatte eine besondere Beziehung zum Meer. Dass es eine ganz andere war als die von Benjamin Britten, wird wohl nicht in erster Linie mit dem Unterschied zwischen der rauen Nordsee vor Suffolk und der eher ruhigen Ostsee vor Travemünde zu tun haben. Aber ganz kann man sich dieser schlichten Begründung nicht entziehen, wenn Thomas Mann in seinem autobiographischen Essay Süßer Schlaf die Verwandtschaft zwischen Meer und Schlaf erklärt. Es fiele schwer, genauso über die Nordsee zu sprechen: »Das Meer! Die Unendlichkeit! Meine Liebe zum Meer, dessen ungeheure Einfachheit ich der anspruchsvollen Vielgestalt des Gebirges immer vorgezogen habe, ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf, und ich weiß wohl, worin diese beiden Sympathien ihre gemeinsame Wurzel haben. Ich habe in mir viel Indertum, viel schweres und träges Verlangen nach jener Form oder Unform des Vollkommenen, welche ›Nirwana‹ oder das Nichts benannt ist, und obwohl ich ein Künstler bin, hege ich eine sehr unkünstlerische Neigung zum Ewigen, sich äußernd in einer Abneigung gegen Gliederung und Maß.«

Fast wortgleich beschreibt Thomas Mann Gustav von Aschenbachs Liebe zum Meer: »Er liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der vor der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheuren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und ebendarum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. Am Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das Vortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des Vollkommenen?«

Erlösung statt Erkenntnis?

Das Meer als ein Symbol für das Nichts, das »Nirvana« also – so setzt es Thomas Mann in Der Tod in Venedig ein. Dies erscheint zunächst erstaunlich, denn das Nirwana hat in der der Novelle maßgeblich zugrundeliegenden Philosophie eigentlich nichts verloren: In dem von Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorgestellten Weltbild kämpfen das »apollinische« und das »dionysische« Prinzip in Aschenbachs Psyche miteinander: Apollon persönlich versucht, Aschenbach zurück zu den Prinzipien von Form, Individualität, Vernunft und Maß zu bringen, während Dionysos dazu einlädt, spontanen Impulsen zu folgen und ganz in der Natur und archaischen Trieben aufzugehen. Die Vorstellung eines »Nichts«, das zwar auch zur Auflösung des Individuums führt, aber den Menschen auch von seinem Wollen und Streben erlöst, stammt eigentlich von Arthur Schopenhauer (und beruht auf viel älteren buddhistischen Ideen). Thomas Mann brachte diese Vorstellung trotzdem in seine Novelle ein und verband sie mit dem Meer, das damit zu einem positiven Todessymbol wird. Als Symbol für die Erlösung vom inneren Kampf musste es natürlich der Blick in die Weite des nur leicht wellenbewegten Meers sein, keine raue See.

Und in Myfanwy Pipers und Benjamin Brittens Version von Der Tod in Venedig? Bezeichnenderweise fand die oben zitierte Passage aus der Novelle nur teilweise Eingang in das Libretto: »Ah, how peaceful to contemplate the sea, immeasurable, unorganised, void. I long to find rest in perfection, and is not this a form of perfection?« (Ah, wie beruhigend, die unermessliche, gestaltlose, leere See zu betrachten. Ich sehne mich nach Ruhe in der Vollkommenheit, und ist das nicht eine Form der Vollkommenheit?) Von Perfektion ist auch hier die Rede, auch kurz von der Leere, nicht aber vom »Nichts« wie bei Thomas Mann. Vielleicht fiel Myfanwy Piper auf, dass das dritte Prinzip eigentlich nicht in die Nietzsche-inspirierte Philosophie der Novelle passt, vielleicht konnten sie und Benjamin Britten auch mit dem Meer als Symbol für das Nichts, für die Erlösung, nicht viel anfangen. Bezeichnenderweise fehlt das Meeres- oder Aussichtsmotiv im Finale der Oper, wenn Aschenbach mit Blick auf das Meer stirbt.

Bei Britten wird der Blick auf das Meer oder das Lauschen auf Meeresgeräusche ambivalenter gezeichnet: Das Meer scheint eng mit der platonischen »Idee der Schönheit« verknüpft. Diese Idee der Schönheit verkörpert auch Tadzio, den Britten damit in symbolische Nähe zum Meer rückt – noch mehr, als Thomas Mann es tut. Diese Deutung stammt von dem englischen Britten-Experten Clifford Hindley. Sie erklärt, warum das Motiv auch erklingt, als Aschenbach mitten im Innenstadttrubel von Venedig plötzlich dem Jungen gegenübersteht. So wird auch verständlich, warum es zum Thema eines Bläserchors wird, nachdem sich Aschenbach im Sokrates-Monolog von seiner Suche nach Schönheit verabschiedet: Es ist der feierliche Abschied von der Suche nach der platonischen Idee der Schönheit, eine Idee, die Platon in seinem Symposion selbst mit einem Meer verglichen hat: »Nach den Lebensweisen aber muss man ihn zu den Wissenschaften führen, damit er auch die Schönheit der Wissenschaften sehe und, bereits auf vielfältiges Schönes blickend, nicht mehr das bei einem einzelnen liebe wie ein Sklave – die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes oder einer einzelnen Lebensweise – und sich, diesem dienend, als gering und kleingeistig erweise; vielmehr soll er sich auf das weite Meer des Schönen begeben und es betrachten, damit er viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in unerschöpflichem philosophischen Streben, bis er, hierdurch gestärkt und gereift, eine einzige Erkenntnis erblickt […].«

Während Thomas Mann also das Meer als drittes Prinzip der dionysischen Formlosigkeit einerseits und dem nach apollinischen Prinzipien geformten Körper Tadzios gegenüberstellt, dachte Britten Tadzio und das Meer als Beispiele für Schönheit. Beide stehen für eine sinnliche Schönheit, die Platons Philosophie zufolge den Weg zur transzendenten Schönheit weist – auch wenn Aschenbach auf diesem Weg aufgibt.


© Ann-Christine Mecke 2017 | erschienen im Programmheft der Oper Stuttgart zu Der Tod in Venedig

Beitragsbild: Bernhard Ludewig.