Die Oper und das Werk: Die Ermächtigung liegt im Dialog

Eine Replik auf Janis El-Biras Kommentar Wir wollen Verdi in SPEX.

Janis El-Biras Darstellung ist bezeichnend: Weltweit erfreut sich das Sprechtheater an gestürmten „roten Linien“, an Überschreibungen, in denen sich heutige Menschen gegenüber toten Meistern „ermächtigen“ – nur die Oper hat mal wieder nichts kapiert, sondern präsentiert ihren Zuschauer_innen das Immergleiche, devot gegenüber dem Popanz der Partitur. Immerhin: Ab und zu kommt jemand wie Frank Castorf vom Schauspiel rüber und zeigt den Opernfans, was alles möglich wäre, wenn sie etwas weniger verbohrt wären. 

Das ist typisch, ja. Aber nicht für die Oper, sondern für die Vorurteile gegen sie. Denn El-Biras Annahme, dass es im Opernbetrieb eine als heilig betrachtete Partitur gäbe, die stets „unberührt“ bleibt, ist schlicht falsch.

Ich habe noch keine Musiktheater-Produktion erlebt, bei der nicht Entscheidungen über die musikalische Fassung getroffen wurden. Oft genug waren die Komponist_innen die ersten, die für verschiedene Aufführungsbedingungen verschiedene Varianten komponierten. Manche Opern blieben unvollendet, andere sind unvollständig überliefert, sodass sich die Frage nach einem geeigneten Ende oder der passenden Instrumentierung stellt. Oder das Regieteam möchte aus inhaltlichen Gründen auf ein Duett verzichten und ein Orchesterwerk als Zwischenspiel einbauen. Und selbst wenn solche Überlegungen einmal keine Rolle spielen, fragt sich spätestens die Dirigentin oder der Dirigent, ob die durchgestrichenen Trompetentöne im alten Orchestermaterial mit der besonderen Akustik dieses Opernhauses zu tun haben oder eher mit stimmlichen Schwierigkeiten eines Sängers vor 50 Jahren. 

In der Vergangenheit entstanden viele Striche und Retuschen, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen: Die Musik erschien so, wie sie geschrieben war, zu lang, zu kompliziert oder zu schräg. Da ließ man lieber etwas weg oder korrigierte, was nicht mehr in die Zeit zu passen schien. Jahrzehntelang ist der Opernbetrieb damit beschäftigt gewesen, sich von entstellenden Notenausgaben und weichgespülten Übersetzungen zu befreien, und auch wenn dieser Prozess inzwischen weit fortgeschritten ist, kann es heute noch radikaler sein, eine Oper mit allen vorgesehenen Tönen zu spielen, als eine der bewährten Strichfassungen auszuwählen. 

Dass Musiker_innen kreativen Veränderungen des Notentextes gegenüber oft skeptischer sind als Schauspieler_innen einem Dramentext gegenüber, hat mit diesem Erbe zu tun. Aber auch mit den Eigenheiten der jeweiligen Kunst: Bei einem Dramentext kann man Form und Inhalt trennen und beispielsweise den Text kürzen und seinen Inhalt einigermaßen erhalten. Musik hingegen ist wesentlich Form: Wer etwa alle Wiederholungen von Melodien und Melodieteilen aus einer Haydn-Sinfonie streicht, erhält keine gekürzte Haydn-Sinfonie, sondern etwas ganz anderes. Es gibt also eine rote Linie. Die jedoch ist beweglich: Wie viel man ändern kann und will, ist für jede Oper und jede Produktion abzuwägen und auszuhandeln.

In jedem Fall sind musikalische Striche, Ergänzungen oder Umstellungen im Opernbetrieb selbstverständliche Elemente der künstlerischen Gestaltung. Manche von ihnen bemerken nur Kenner_innen, andere setzen ein Ausrufezeichen. In der letzten Spielzeit konnte man beispielsweise erleben, wie am Theater Hagen Verdis Simon Boccanegra mit der letzten Szene begann und dann erst zu Ouvertüre und erstem Akt überging. In Saarbrücken besteht eine Medea-Aufführung aus der gleichnamigen Cherubini-Oper, einem gesprochenen Monolog von Heiner Müller und einem Chorstück von Iannis Xenakis. Das Theater St. Gallen spielte eine Monteverdi-Oper in der spektakulären musikalischen Bearbeitung von Ernst Krenek. Im Theater Lübeck saßen Zuschauer_innen im letzten Akt des Freischütz an Biertischen auf der Bühne und sangen das Lied vom Jungfernkranz, nachdem sie sich an der Beantwortung von Einbürgerungsfragen versucht hatten. In Bremen steht eine Rosenkavalier-Fassung auf dem Programm, in der 21 Nebenfiguren eliminiert sind. Die Liste ließe sich fortsetzen; keines der eben genannten Beispiele ist älter als ein Jahr.

Fortschritt braucht Dialog

Fun fact: Als ich mit Castorf für seine Stuttgarter Inszenierung der Gounod-Oper Faust über die musikalische Fassung sprechen wollte, interessierte er sich herzlich wenig dafür. Offensichtlich geht es ihm bei seinen Operninszenierungen nicht darum, die Musik mitzugestalten. Sondern vielmehr darum, eine von ihm als feststehend betrachtete Musik mit Vorgängen, Bildern und Texten anzureichern. Und bei allem Respekt vor dem großen Regisseur Castorf: Dass die Musik in einer Opernaufführung für stumme Spielhandlungen oder Sprechtexte unterbrochen wird, hat er nun wirklich nicht erfunden. Es gehört zu den künstlerischen Mitteln, die in heutigen Opernaufführungen selbstverständlich zum Einsatz kommen. 

Welche Eulen möchte Janis El-Bira also nach Athen tragen? Gegen Ende seines Textes spricht er von seiner Vision: musikalische Überschreibungen und „radikale“ Neufassungen bekannter Werke. Das gibt es tatsächlich eher selten an großen Opernhäusern, denn hier wird die Organisation kompliziert. Schließlich kann so ein Remix oder musikalischer Kommentar schlecht über Nacht von eine_r Dramaturg_in zusammengeschustert werden wie manche Textfassung im Sprechtheater. Man braucht dafür ein_e Komponist_in, und die braucht Zeit zum Arbeiten. Und wenn er oder sie fertig ist, erhält man wiederum eine Partitur, über deren Ausführung man streiten kann. 

Denn wenn man Musiktheater überhaupt vom (Sprech-)Theater abgrenzen will, dann besteht der Unterschied wohl gerade darin: dass die Komposition in aller Regel der Erfindung der szenischen Vorgänge vorausgeht, dass die Musik den Rhythmus, die Struktur des Abends wesentlich bestimmt. Welches Gefühl, welche Figur, welches Handlungselement bekommt Zeit und Aufmerksamkeit? Über diesen Fragen kann die Regie im Musiktheater zwar mitentscheiden, aber sie muss dazu in einen Dialog mit der Musik treten, die eben nicht dazu da ist, „schöne Stellen“ zu liefern, sondern eigene Schwerpunkte setzt. Auf diesen Dialog zu verzichten, wäre keine Ermächtigung, sondern das Ausweichen in eine vermeintlich coolere Gattung.

Und so interessant moderne Bearbeitungen von alten Opern sein können: Wenn man schon eine_n Komponist_in und entsprechende Bedingungen hat, könnte sie oder er dann nicht gleich eine neue Oper schreiben? Gegen die Langeweile, die El-Bira anscheinend bei vielen Opernbesuchen empfindet, könnte dies das wirksamere Mittel sein. Denn in einem stimme ich dem Autor uneingeschränkt zu: „Kein Leben ist lang genug, um in seinem Verlauf mit dreißig uninspirierten Bebilderungen von Aida vollgemüllt zu werden.“ Selbst wenn es alles hochinspirierte Aida-Interpretationen sind, halte ich fünfzehn für völlig ausreichend. In der verbleibenden Zeit könnten wir fünfzehn neue oder bisher völlig unbekannte Opern kennenlernen.


Erschienen am 20. November 2019 in Spex.

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