Mädchenstimmen zwischen Kunstfreiheit und Reputation

Es klang wie eine Meldung aus dem „Postillon“: Ein neunjähriges Mädchen wollte sich in einen Knabenchor einklagen und unterlag damit vor dem Landgericht. Entsprechend groß war die Häme, die sich in den sozialen Netzwerken über die Mutter ergoss, die als Rechtsanwältin ihre Tochter vertrat: „Welchen Teil des Worts Knabenchor hat diese Helikoptermutter im Genderwahn nicht verstanden?“ Handelt es sich also nur um ein Verständnisproblem?

So einfach ist es nicht. Wer argumentiert, dass sich Knaben- und Mädchenchöre nun mal – wie der Name andeutet – im Geschlecht ihrer Mitglieder unterschieden, unterschlägt, dass es sich auch jenseits dessen um grundverschiedene Institutionen handelt: Knabenchöre bestehen in der Regel aus Jungen vor dem Stimmwechsel in Sopran und Alt und aus Männern (Begriffsanalytiker müsste das eigentlich überraschen) in Tenor und Bass. Für die Ausbildung der hohen Stimmen bleibt wenig Zeit: Mit elf sollte ein Sänger Konzertreife erreicht haben, denn mit zwölf oder dreizehn Jahren ist meistens Schluss mit der hohen Stimme.

Entsprechend effizient und intensiv muss die Ausbildung sein. Knabenchöre sind besondere Klangkörper, weil viel Musik für sie komponiert wurde; sie sind das „Originalinstrument“ für die geistliche Musik von Heinrich Schütz oder Johann Sebastian Bach. Ihr Repertoire ist oft durch solche Musik geprägt, und das Repertoire prägt wiederum dem Klang.

Mädchenchöre hingegen können sich für die Ausbildung mehr Zeit lassen. Die Stimme der Sängerinnen ändert sich zwar auch im Umfeld der Pubertät, aber nicht so stark. Die Sängerinnen der bedeutenden Mädchenchöre sind oft schon 15 oder 17 Jahre alt, wenn sie in Konzerten auftreten, die Elfjährigen befinden sich noch in der Ausbildung. Männerstimmen haben Mädchenchöre normalerweise nicht zur Verfügung, schon deshalb ergibt sich ein anderes Repertoire, das eher von Romantik und Neuer Musik geprägt ist. Ja, von Neuer Musik, weil es Mädchenchöre und speziell für sie komponierte Musik erst seit Mitte des 20. Jahrhundert überhaupt gibt.

Der Zugang zu Repertoire und Ausbildungsstruktur der berühmten Knabenchöre bleibt Mädchen also prinzipiell verschlossen, und das hat zunächst nichts mit Biologie, sondern mit Geschichte und Tradition tun. Zugegeben: Die Anzahl von elfjährigen Mädchen, die untröstlich sind, weil ihnen verwehrt wird, Bach und Schütz im vierstimmigen Satz zu singen, dürfte gering sein. Und für diese Mädchen ließen sich bestimmt pragmatische Lösungen finden, die sie glücklicher machten als ein Gerichtsverfahren.

Die Unterschiede gehen jedoch weiter: Seit Beginn der abendländischen Musikgeschichte sind Knabenchöre nicht nur Klangkörper, sondern auch Ausbildungsinstitutionen einer musikalischen Elite. Sie singen mit den besten Orchestern und Dirigenten, gehen weltweit auf Tournee und füllen die Konzertsäle. Die Einnahmen daraus helfen, den personalaufwändigen Betrieb aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus erhalten die großen Knabenchöre erhebliche öffentliche Fördermittel; Thomanerchor und Dresdner Kreuzchor beispielsweise sind städtische Institutionen. 

Das sind Privilegien, die die Chöre für Sänger und Eltern attraktiv machen und zum Beispiel bei einem späteren Musikstudium Vorteile verschaffen. Prominente Mädchenchöre mit ähnlichen finanziellen Mitteln und Qualität gibt es mittlerweile auch, aber es sind sehr wenige. Mädchen singen mindestens genauso gerne und gut wie Jungen, schaffen es aber seltener an die Spitze. Im beruflichen Bereich nennt man so etwas die „Gläserne Decke“.

Mit den staatlichen Leistungen hatte die Klägerin argumentiert, die man die Universität der Künste angegliederten Staats- und Domchor Berlin singen wollte: Mädchen seien von der Teilhabe an diesen öffentlichen Leistungen prinzipiell ausgeschlossen, und das sei Diskriminierung. Das Gericht kam jedoch zu dem Schluss, dass die Kunstfreiheit – die Freiheit des Chorleiters, die Stimmen für den Chor auszuwählen – hier höher zu bewerten sei als die Gleichbehandlung der Geschlechter.

Mit Kunstfreiheit ist die Ablehnung von Mädchen aber nur zu rechtfertigen, wenn man den Unterschied zwischen Knaben- und Mädchenstimmen hören kann. Kann man das überhaupt? Das ist Gegenstand empirischer Untersuchungen. Ein entsprechendes Experiment habe ich vor einiger Zeit selbst durchgeführt. Dazu haben wir in der Arbeitsgruppe einerseits die Stimmen von Mädchen und Jungen aufgenommen, die gemeinsam im Gesang ausgebildet werden, andererseits Sänger eines berühmten Knabenchors.

Die Aufnahmen haben wir zunächst physikalisch analysiert: Welche Obertonbereiche sind in der Stimme prominent? Wieviel Atemhauch ist zu hören? Wie regelmäßig schwingen die Stimmlippen? Dann haben wir die Beispiele einer Gruppe von Expertinnen vorgespielt, die das Geschlecht der Kinder erkennen sollten.

Zwei Ergebnisse dieses Versuchs sind für die aktuelle Diskussion besonders wichtig. Erstens: Die Expertenhörerinnen konnten Jungen und Mädchen am Klang auseinanderhalten. Die Trefferquote lag bei 66 Prozent und damit signifikant über der Zufallswahrscheinlichkeit. Zweitens: Bei der physikalischen Analyse unterschieden sich die Jungen aus den beiden Chören stärker voneinander als Mädchen und Jungen aus demselben Chor. Der Einfluss von Stimmbildung, Klangidealen und Auswahl der Mitwirkenden ist also stärker als der des Geschlechts; Mädchen- und Jungenstimmen sind unterschiedlich, aber nicht fundamental unterschiedlich.

Rechtfertigt ein so feiner Unterschied die Existenz von reinen Knaben- und Mädchenchören? Ja, das Gericht hat richtig entschieden, denn in der Kunst geht es nun mal um feine Unterschiede. Ob Martha Argerich am Klavier sitzt oder Yuja Wang, ob die Rockgitarristin eine Stratocaster oder Telecaster bearbeitet und ob ein Bild von Dürer ist oder nur aus seiner Werkstatt – das sind Dinge, über die sich selbst Fachleute mal irren können und die doch entscheidend sind.

Gerechtigkeit ist in diesem Bereich weniger wichtig: Niemand würde wohl fordern, dass Martha Argerich nun oft genug mit der Staatskapelle zu hören war und wegen der Gleichbehandlung eine andere Pianistin zum Zuge kommen sollte. Gerade weil die Kunstfreiheit aber einen so hohen Stellenwert hat, müssen sich die Verantwortlichen immer wieder prüfen, ob es in ihren Entscheidungen wirklich nur um Kunst geht.

In der Theaterwelt werden solche Verzerrungen seit einiger Zeit diskutiert: An den großen Häusern inszenieren vorrangig Männer, obwohl es reichlich gute Regisseurinnen gibt. Da liegt die Vermutung nahe, dass nicht alle Entscheidungen künstlerische waren, auch wenn es den Beteiligten so schien. Ähnliche Mechanismen könnten auch bei den Konzertbuchungen von Mädchen- und Knabenchören wirksam sein.

Gefragt sind hier nicht nur Dirigentinnen und Intendanten, sondern auch Menschen, die Konzertkarten und CDs erwerben. Auch und gerade, wenn wir den Klang von Knabenstimmen lieben, müssen wir neugieriger werden auf die Stimmen der Mädchen! Und wir müssen ihnen die gleichen Chancen bieten, auch finanziell. In diesem Sinne könnte der Prozess des Mädchens, auch wenn es diesen verloren hat, politische Wirksamkeit entfalten. Der Staats- und Domchor Berlin allerdings war in diesem Kampf der falsche Gegner, denn er hat bereits einen gleichwertigen Mädchenchor, mit dem er zusammenarbeitet, auch wenn hinter beiden Chören verschiedene Institutionen stehen: Der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin bietet ebenfalls eine hervorragende Ausbildung und steht musikalisch nicht schlechter da als sein Partnerchor – manche würden sogar sagen: besser.

Dass die bedeutenden Mädchenchöre der Stadt (auch der Berliner Mädchenchor wäre hier zu nennen) in der öffentlichen Diskussion dieses Falls keine Rolle spielen, dass die Mitwirkung in diesen hervorragenden Ensembles wie ein Trostpreis wirkt, ist das eigentlich Traurige. Es unterstreicht, dass es wirklich um mehr geht als um das Verständnis des Worts „Knabenchor“.


© Ann-Christine Mecke 2019, erschienen in der Berliner Zeitung vom 20.8.2019

Beitragsbild: Der Berliner Mädchenchor bei einem Konzert in der Berliner Philharmonie. Foto: Berliner Mädchenchor.