Eine Art von Triumph

Oper im Schwimmbad, Tanztheater im Kaufhaus, Streichquartette im Heizungskeller – muss man denn überall Musik machen? Aber ja! sagen die einen: „Ungewöhnliche Spielstätten“ locken ungewöhnliches Publikum ins klassische Konzert. Außerdem sind ungewohnte Räume auch eine beabsichtigte Herauforderung für die Rituale, die mit dem Konzertbesuch und dem Musikhören verbunden sind. Räume strukturieren unser Verhalten; Räume, die vom konventionellen Konzertsaal abweichen, ermöglichen oder fördern anderes Verhalten, eine andere Haltung, anderes Hören. Räume sind Teil der Aufführung, ganz gleich ob wir sie bewusst wahrnehmen oder ignorieren. Sie sind Teil der Erfahrung, wegen der wir ins Konzert gehen, Teil des Kunstwerks, das ein Konzert sein kann. Im Idealfall nehmen Raum und Musik aufeinander Bezug, bildet der Raum einen reizvollen Kontrast oder vermittelt eine zusätzliche künstlerische Aussage. Gerade Orte, die nicht zum Musikhören, sondern für die arbeitsreiche, konsumorientierte und manchmal hässliche Wirklichkeit gebaut wurden, machen uns auch beim Musikgenuss bewusst, wie weit wir von der Utopie entfernt sind, die in der Musik zum Ausdruck zu kommen scheint. Kaufhäuser, Bahnhöfe und Fabrikhallen bilden den irdischen Gegenpol zu überirdischen Terzenketten und Oboensoli; beides gemeinsam stellt die gesellschaftliche Realität in Frage.

Oh nein! sagen die anderen. Denn die Wirklichkeit des Konzertbetriebs sieht doch oft so aus: Da wurde eine Industrieruine mit viel Aufwand und trotzdem nur notdürftig zur Spielstätte hergerichtet. In der einen Ecke steht eine Zuschauertribüne, gegenüber die Musiker im Lichtkegel, hinten leuchten grün die Notausgang-Schilder. Die klassische Konzertarchitektur ist wieder hergestellt, die Ruinenwand bildet die atmosphärische Kulisse. Was gespielt wird, hat mit dem Raum nichts zu tun, und das Publikum sieht aus wie immer, wenn’s originell zu werden verspricht. Nur die Akustik ist bedeutend schlechter als im Konzertsaal. Auf der Tribüne zieht’s, ein Generator brummt, und in der Pause stellt man fest, dass das einzige, was gewohnte Konzertrituale ernsthaft in Frage stellt, die Toilettensituation ist.

Seit wann ist Ungewöhnlichkeit ein Qualitätsmerkmal? fragen die dritten. Sollte man nicht eher damit werben, dass die Konzerte an sinnvollen Orten stattfinden? So etwas gibt es durchaus: Wenn das Leipziger Forum für zeitgenössische Musik Liebeslieder im Bordell und Musik von Hanns Eisler im Arbeitsamt aufführt, ist das nicht unbedingt subtil, aber einleuchtend. Es geht auch abstrakter: Die Epochen von Architektur und Musik, die Symmetrien von Raum und Klang oder Akustik und Aufführungpraxis können sinnfällig miteinander in Beziehung treten. Das geschieht aber nicht immer. Oft wählt der Veranstalter nur einen Ort, der interessant erscheint, weil man ihn sonst nicht betreten darf. Was dort gespielt wird, spielt eigentlich keine Rolle – Hauptsache, man kommt man ins Pumpspeicherwerk, ins leerstehende Schwimmbad, ins entkernte Botschaftsgebäude. Genau so banal sind die praktischen Kombi-Veranstaltungen: Musik im Museum oder im Aquarium bieten zwei Kulturereignisse auf einmal. Ein Konzert im nächtlichen Museum ist nicht nur eine Kombi-Veranstaltung, sondern auch noch ein Besuch im sonst verschlossenen Raum. Diese Art der Ungewöhnlichkeit ist nur gewöhnliches Marketing.

Die andere Sorte Ungewöhnlichkeit ist vielleicht noch schlimmer. Sie sucht den Charme des Verfallenen: Industrieanlagen ohne Industrie, Kaufhäuser ohne Waren, staatliche Bauten, für die kein Staat mehr Verwendung hat. Wir mögen es offenbar, wenn Musiker in Ruinen der Zivilisation sitzen. Musik und Ruinenhintergrund mögen auf den ersten Blick wie ein Kontrast erscheinen, der die gesellschaftliche Realität in Frage stellt, doch eigentlich bleiben hier keine Fragen offen, denn die Kunst scheint bereits gesiegt zu haben.  Im ausgehenden 18. Jahrhundert liebte man von Pflanzen überwucherte Ruinen als Sinnbild für die Macht der Zeit. „Die Natur scheint die Plätze, die ihr die Baukunst geraubt hatte, mit einer Art von Triumph sich wieder anzueignen“ formulierte Christian Cay Lorenz Hirschfeld 1780 über Ruinen in der Gartenbaukunst.

Im heutigen Ruinen-Konzerten hat Kultur die Stelle der Natur eingenommen: Jeder Zweckbau wird früher oder später von Musik überwuchert, scheint ein solches Konzert zu sagen. Während sich die Kultur die Plätze mit einer Art von Triumph wieder aneignet, bleibt dem Publikum nur, die dargestellte Allmacht der Kultur zu beklatschen. Wer in einem entkernten Supermarkt ein Streichquartett hört, statt dort einzukaufen, kann sich bedenkenlos auf der richtigen Seite fühlen. Kunst, die für dieses gemütliche Gefühl sorgt, ist aber eigentlich Kitsch.


© Ann-Christine Mecke 2013 | erschienen im Magazin Klangwelten 1/13

Beitragsbild: Caspar David Friedrich, Klosterruine Eldena bei Greifswald