Erzähl!
Programmhefttext über die Ereignisse um Kirill Serebrennikovs Stuttgarter Hänsel und Gretel-Inszenierung
Ich aß ein ganzes Taschentuch nach und nach im Alter von sechs Jahren, in der Metropolitan Opera, während einer Aufführung von Hänsel und Gretel. Das ist eine Oper, die sich eingehend mit dem Essen beschäftigt, Zuckerhäuschen, hungrige Kinder, Brotkrümel, Füttern von Hänsel und Gretel, einer Hexe, die Kinder frisst, mein Vater glaubte, ich würde essen, weil ich nervös sei, was auch stimmte, aber ich aß mit Hänsel zusammen, damit ich irgendwas mit Hänsel zusammen tun konnte, das geschmacklose, schreckliche Taschentuch, und dann brauchte ich es auf einmal nicht mehr zu kauen, alle Kinder waren erlöst, aus dem Ofen raus, nicht aufgefressen, und konnten wachsen. Alles, was ich je auf dem Theater gemacht habe, ist ein Versuch gewesen, die Sehnsucht nach Freiheit freizusetzen, und den Effekt dieser Freiheit, dieser world to be, jenseits von dem Gefängnis einer Hexe, das das Hänsel und Gretel-Erlebnis mir eingab.
Julian Beck (Schauspieler, Regisseur und Autor, Gründer des »Living Theatre«)
Als wir im April 2017 die Dreharbeiten zu Kirill Serebrennikovs Märchenfilm abschließen, der ein wichtiges Element seiner Hänsel und Gretel-Inszenierung werden soll, ist von einer Gefahr für die Produktion noch nichts zu spüren. Das ganze Filmteam ist erleichtert, dass die Dreharbeiten für den ruandisch-deutschen Märchenfilm so gut gelaufen sind. Im September sollen dann Film und Live-Musiktheater zueinander finden. Kirill sprach sogar von einer experimentellen Verbindung von beidem mit Installationskunst, die ihm vorschwebte. Nicht ganz sicher sind Kirill und ich, wie die Hexenszene auf der Bühne umgesetzt werden soll, die im Film nicht vorkommt. Aber ich habe keine Zweifel, dass Kirill im Austausch mit den Sängern eine phantastische Lösung finden wird. Erstmal fliegt er zurück nach Moskau, um dort zu inszenieren und sein Theater zu leiten, das Gogol-Center. Der Schnitt des Films muss erst einmal warten, zu viel andere Arbeit stapelt sich in Moskau.
Sechs Wochen später berichtet mir Sergio Morabito, Kirill sei am Morgen von maskierten Geheimdienstmitarbeitern und einer Wohnungsdurchsuchung geweckt worden. Außerdem sei die Polizei im Gogol-Center und triebe dort die Mitarbeiter zusammen. Später sehen wir im Internet, wie Kirill zu einem Auto gebracht wird, das ihn zum Verhör fahren soll, dabei beantwortet er ein paar Fragen der wartenden Presse. Trotzdem spielt das Gogol-Zentrum am Abend wieder. Das im Theater zusammengekommene, mit dem Theaterleiter solidarische und um ihn bangende Publikum jubelt, als am Ende der Vorstellung bekannt gegeben wird, dass Kirill Serebrennikov – offiziell nur Zeuge in dem gegen seine ehemaligen Mitarbeiter eingeleiteten Verfahren – wenigstens wieder nach Hause durfte. Wie er später meinem Chef erzählt, ist es ein Zuhause, in dem er zunächst vor Angst nicht mehr schlafen mag.
Der Schreck sitzt allen in den Knochen, aber es geht weiter: Das Gogol-Center spielt, Kirill führt eine Opernuraufführung zur Premiere und probt dann Nurejew, sein neues Ballett am Bolschoi-Theater. Für die Sommerpause plant er wie gewöhnlich, einen großen Kinofilm zu drehen. In Stuttgart bauen die Werkstätten das ebenfalls von Kirill gestaltete Bühnenbild für Hänsel und Gretel, die Sänger arbeiten an ihren Partien. Trotz aller zusätzlichen Belastungen durch die unsichere Situation machen sich Kirill und der Videokünstler Ilya Shagalov an den Schnitt des Films. Anfang Juli reist meine Kollegin nach Moskau und besucht dort auch das Gogol-Center, sie sieht die Wiederaufnahme des Sommernachtstraums, jene Inszenierung, die laut Ermittlungsbehörden niemals stattgefunden haben soll. Kirill kommt kurz auf die Bühne und verbeugt sich, dann ist er wieder weg – wahrscheinlich zurück ins Bolschoi-Theater.
Am nächsten Tag gibt Wladimir Urin, der Intendant des Bolschoi-Theaters, bekannt, dass die Uraufführung von Nurejew nicht stattfinden wird. Die Produktion sei noch nicht fertig. Die Mitwirkenden protestieren.
Natürlich ist längst auch unsere Produktion beeinträchtigt, nicht zuletzt aufgrund der Vermutung, dass jede Kommunikation von uns mit den russischen Kollegen mitgelesen und mitgehört wird. Kirill, früher keine Minute des Tages offline, kommuniziert nur noch sparsam, und die Abgabe seiner Kostümentwürfe verzögert sich. Auch ich richte nur noch knappe und sachliche Fragen zum Filmschnitt und zur Produktion an ihn. Die naheliegenden Fragen »Wie geht es dir?« und »Wie geht es für dich weiter?« stelle ich nicht, denn ich weiß, dass er sie nicht offen beantworten kann. Kirill bittet uns, den Probenbeginn um eine Woche zu verschieben. Erst viel später erfahre ich aus dem Interview, das Kirill der Süddeutschen Zeitung gibt, dass ihm schon im Mai sein Pass mit der lächerlichen Begründung abgenommen wurde, er müsse auf Echtheit geprüft werden. Glücklich über den fertigen Film-Rohschnitt und trotz allem optimistisch gehen wir in die Theaterferien.
Am 22. August wird Kirill Serebrennikov bei den Dreharbeiten für seinen neuen Film Leto (Sommer) festgenommen. Vermummte Polizisten bringen ihn am nächsten Morgen vor die Haftrichterin, dort kommt er in den bei russischen Gerichten üblichen Angeklagten-Käfig. Die Richterin verhängt Hausarrest samt Fußfessel, vorerst für zwei Monate, bis zum Tag nach der Stuttgarter Generalprobe. Die anstehenden Hänsel und Gretel-Proben sind sogar das Argument des Gerichts für die angebliche Fluchtgefahr. Dabei hätte Kirill doch ohnehin keinen Pass mehr. Fassungslos sehen wir Opernmitarbeiter an unseren unterschiedlichen Ferienorten die Bilder unseres Kollegen hinter Käfiggittern, in der Hand hat er eine kleine Plastiktüte mit seinen persönlichen Sachen. Immer wieder hat er uns in der Vergangenheit erklärt, wie sehr er an Russland glaubt, wie kreativ ihn die gesellschaftlichen Probleme seines Landes machen. Nun ist dieser sensible und unermüdlich produktive Künstler Teil einer grotesken Installation der Staatsgewalt. Vor dem Gericht demonstrieren hunderte Künstler, Gogol-Zuschauer und Weggefährten Kirills.
Der Stuttgarter Opernleitung bleibt nichts anderes übrig, als auf diese Entwicklung zu reagieren. Als erstes steht fest: Die Premiere soll nicht ausfallen. Und kein anderer Regisseur wird Kirills Inszenierung fortführen; er selbst soll sie vollenden, wenn er wieder frei ist. Sein Bühnenbild und seine Kostüme werden bis dahin eingelagert.
Bleibt die Frage: Ist Kirill damit einverstanden, dass wir den Film ohne die anderen von ihm vorgesehen Elemente der Inszenierung zeigen? Dann könnten wir dem Publikum einen Eindruck vom Stand der Arbeit und vor allem von der Qualität des unvollendeten Kunstwerks vermitteln. Wir fragen über den Anwalt nach, denn Kirill darf im Hausarrest weder telefonieren noch E-Mails oder Post empfangen, nur Gespräche mit dem Anwalt sind erlaubt. Nach einer Woche kommt die Zusage: Wir dürfen große Teile des Films im Rahmen einer Präsentation zeigen. Kirill habe bei der Entscheidung geweint, erfahren wir.
Trotzdem: Kein Requiem auf eine Regiearbeit soll der Abend werden, sondern ein Fest für Kirill, dessen Kunst immer wieder für den Versuch steht, »die Sehnsucht nach Freiheit freizusetzen, und den Effekt dieser Freiheit, dieser world to be«.
Die meisten Kollegen sind entsetzt über die Geschehnisse. Alle Werkstattleiter und Assistenten sagen sofort zu, kurzfristig einen neuen Bühnenraum, neue Kostüme, ein Lichtkonzept und Videokunst zu gestalten und so mit der Abwesenheit des Regisseurs umzugehen. Auch der Musikalische Leiter Georg Fritzsch ist einverstanden. Er ist sichtlich erschüttert von den Ereignissen, die ihn an seine Vergangenheit in der DDR erinnern, aber auch voller Hoffnung: »Na klar machen wir das, aber irgendwann macht Kirill das Ding fertig, das muss klar sein.«
Vor der größten Herausforderung stehen die Sängerinnen und Sänger, die ohnehin großen Respekt vor der komplexen Produktion hatten, die sich aber auf die Zusammenarbeit mit Kirill Serebrennikov gefreut hatten, der seit Salome einen fast legendären Ruf genießt. Nun sind viele Entscheidungen offen, die bei einer normalen Opernproduktion schon zu Probenbeginn feststehen, und unsere Ziele scheinen widersprüchlich: Wie können wir einerseits mit der Aufführung deutlich machen, dass eine künstlerische Arbeit zwangsweise unvollendet bleiben musste, aber unserem Publikum trotzdem ein komplettes künstlerisches Erlebnis bieten? Wie können wir die politischen Ereignisse, die uns beschäftigen, so in die Aufführung einfließen lassen, dass auch die anwesenden Kinder der Geschichte etwas abgewinnen können ?
Der Begriff des Erzählens wurde zum Leitfaden bei der Suche nach einer neuen Form für die Aufführung: Wir wollen das Märchen von Hänsel und Gretel erzählen und die von Kirill daraus entwickelte Geschichte zweier ruandischer Kinder, die sich plötzlich in Deutschland wiederfinden. Wir wollen aber auch die Geschichte dieser Musiktheaterproduktion erzählen und von unseren mit ihr verknüpften Hoffnungen. Die Haltung des Erzählens erwies sich als hilfreich für die Sängerinnen und Sänger, die sich zum Film verhalten mussten, ohne eine konkurrierende Handlung zu erfinden. Und dann fiel uns auf, dass sich diese Haltung auch in dem disparaten Libretto der Oper wiederfindet. Wie Kinder beim Vater-Mutter-Kind-Spielen gleichzeitig spielen und ansagen: »Ich bin die Mutter und komme jetzt nach Hause«, so stellen sich auch die Figuren der Oper oft selbst vor: »Der kleine Sandmann bin ich«. Sie erzählen dem Zuschauer ganz undramatisch von ihren Träumen, von der Hexe oder von dem, was man eigentlich auf der Bühne genausogut sehen und erleben könnte: »Mein Erbelkörbchen ist voll bis oben«, »Nun auch den Topf noch zerbrochen!« oder »Hei, wie im Ofen die Scheite krachen«.
Bei dieser Haltung des Erzählens geht es jedoch nicht um Verfremdung wie in Bertolt Brechts epischem Theater, sondern unser Ziel ist »die Ausweitung der Handlung und die Aufhellung ihrer Hintergründe, also eine Fortführung des Stückes über den Rahmen des nur Dramatischen hinaus.«, wie es Brechts Vordenker und Kollege Erwin Piscator formulierte. Piscator begriff das Theater als phantasieanregendes Mittel, Menschen über das »in Aufruhr zu bringen«, was in der Zeitung steht. Ohne Humperdincks Oper zu kürzen, fügen wir kurze Sprechtexte und Videos ein, die das Märchen in unseren aktuellen Zusammenhang stellen. Aber auch die dramatische Darstellung – inklusive Theatertricks, wie das Kind in jedem von uns sie liebt – ist ein Mittel des Erzählens, dessen wir uns bei unserer Montage eines unvollendeten Kunstwerks bedienen.
So wie das Erzählen für die Form des Abends, so wurden die Themen Angst und Überwachung zu Leitmotiven für das, was wir erzählen: Die hungrigen, aber fröhlichen Kinder des Opernbeginns haben Angst, von ihrer Mutter beim Spielen erwischt zu werden, der Vater projiziert seine Ängste auf eine Hexe, die Kinder sehen im Wald Nebelfrauen »die drohend schauen« und die Hexe bannt ihre Opfer »mit dem bösen Blick«. Offene und geschlossene Augen, gute und schlechte Sinnesorgane, Beobachten und Beobachtet-Werden sind Motive, die in der Oper immer wieder auftauchen. Wir erkannten hier das Gefühl wieder, überwacht zu werden, das Kirill und alle, die mit ihm zu tun hatten, schon seit der Wohnungsdurchsuchung belastete.
Die Oper Hänsel und Gretel hat ein glückliches Ende, auch wenn man fragen könnte, was die ungebremste Freude der Familie am Schluss rechtfertigt: Zwar sind die Kinder der Hexe entkommen, aber die Not der Familie wird durch ein paar Lebkuchen wohl nicht dauerhaft gelindert sein. Es ist die Hoffnung auf ein Ende der Not, die sie feiern, so wie wir auch. Denn irgendwann macht Kirill das Ding fertig, das muss klar sein.
© Ann-Christine Mecke 2017 | erschienen im Programmheft der Oper Stuttgart zu Hänsel und Gretel.
Beitragsbild: Paula Bulling