Hundert Jahre Leipziger Opernregie

»Schlichter Diener am Werk soll der Regisseur sein! Ein schöner, beherzigenswerter Satz. Aber jeder Satz, jedes Axiom lässt sich so oder so auslegen. Wie dient man einem Werke am besten? Indem man es so wirksam wie möglich macht, seine Vorzüge aufleuchten lässt und seine Nachteile kaschiert, deckt, verschwinden lässt. Freilich, die Art, in der dies wirksamst geschehen kann, ist an Geschmack und Zeitgeist der Epoche gebunden, in der die Aufführung (oft eine Art ›Wiederbelebung‹) vor sich geht. Es gibt auch beim Theater Dinge, die nur schön in der Erinnerung sind. Wir ändern uns mit den Zeiten, ohne es zu merken. Die bezopfte und vollbartbetrottelte Tradition, die stur und stier Ältestes mit Treue bewahrt wissen will, hat es auf dem Gewissen, dass unter manchen Breitengraden das Operntheater noch hundert bis zweihundert Jahre in der Entwicklung zurück ist.« – Diese Zeilen stammen nicht etwa aus der letzten Zeit, sondern von 1930. Der Leipziger Operndirektor Walther Brügmann formulierte sie als Antwort auf Kritiker, die ihm Traditionsbruch und Missbrauch der Werke vorwarfen.

Streit darum, wie weit Opernregie gehen darf, gibt es schon, seit Opernregie als eine eigenständige Kunstform wahrgenommen wird. Vielleicht sollte man sogar sagen: Opernregie gibt es als eigenständige Kunstform, seit über ihre Ergebnisse gestritten wird. Zwar wurden Opern immer inszeniert, wenn sie aufgeführt wurden, aber die szenische Realisierung wurde als selbstverständlicher Bestandteil der Einstudierung eines neuen Werkes betrachtet, nicht als eigenständige künstlerische Leistung. Erst als ältere Opern wieder regelmäßig aufgeführt wurde, also etwa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, entstand das Problem, dass jemand, der nicht an Libretto und Komposition beteiligt war, entscheiden musste, was die Figuren auf der Bühne tun. Hinzu kam, dass weder Regisseur noch Publikum die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Uraufführung aus eigenem Erleben kannten.

Für die Leipziger Oper lässt sich die »Emanzipation« der Regie recht genau nachvollziehen. Hatte Angelo Neumann 1878 Wagners »Ring des Nibelungen« noch in der nachgebauten Bayreuther Originaldekoration gespielt und sich möglichst genau an die Regieanweisungen des Komponisten gehalten, inszenierte Hans Loewenfeld Mozarts »Zauberflöte« 30 Jahre später in einem bewussten Bruch mit den Konventionen, die sich um diese Oper gebildet hatten. Noch weiter als Loewenfeld ging Ernst Lert um 1917 bei seinen Inszenierungen von sechs Mozart-Opern. Er erforschte Partitur und Inszenierungsgeschichte ausführlich, um einen passenden Ausstattungs- und Inszenierungsstil zu ermitteln. Seine Überlegungen legte er 1918 in einem Buch dar. Es ist eine der ersten Monographien, die sich ausdrücklich der Opernregie widmet.

Erstaunlicherweise ging es Lert nicht darum, das Werk in eine aktuelle Bühnensprache zu überführen, sondern um eine Art Rekonstruktion der Uraufführung: »Die Partitur ist uns nicht mehr als ein architektonischer Grundriss für die Aufführung. Diese in ihrer historischen Form nach diesem Grundriss zu rekonstruieren, ist noch eine ganz große, selbständige Aufgabe. Die Partitur ersetzt demnach nicht das Leben der Szene, sondern sie gibt ihm nur eine schematische Grundlage. Darum haben wir die bühnliche Darstellung selbst philologisch und musik-philologisch aus der Partitur zu rekonstruieren. Doch dürfen wir nicht die Erfahrung des täglichen Lebens auf die Neugestaltung der historischen Inszenierung anwenden, sondern wir müssen die Spielweise, das Leben auf der vergangenen Bühne wiederzufinden suchen.«

Am radikalsten und wohl auch am überzeugendsten setzte er seine Ideen in »La Clemenza di Tito« um, in der er die »Kühle« und »Marmorhaftigkeit« der Opera seria szenisch noch unterstrich. Lert forderte von den Sängern, einen inneren Abstand zu den Figuren zu behalten, und nahm damit den später von Brecht etablierten Begriff der epischen Spielweise vorweg. Für andere Mozart-Opern kam er zu anderen Lösungen, beispielsweise sollte in der »Zauberflöte« der märchenhafte Charakter betont werden, bei »Così fan tutte« hingegen die Ironie.

Auch wenn Lert in den Leipziger Inszenierungen nicht alles umgesetzt hatte, was er in seinem Buch forderte, wurde sein Mozart-Zyklus weithin beachtet und kontrovers diskutiert. »La Clemenza di Tito« entwickelte sich unerwartet zu einem Publikumserfolg. Damit war der Schritt vollzogen, Opernregie als eine eigene Kunstform zu betrachten. War das Lob, die Leipziger Aufführung des »Rings« 1878 sei »besser gelungen als in Bayreuth« noch als eine Art handwerkliches Urteil über die Regie zu verstehen, waren Ernst Lerts Inszenierungen eigenständiger Gegenstand künstlerischer Kritik. Auch er selbst betrachtete sie als eigene künstlerische Leistung und ließ sie urheberrechtlich schützen. Dass Lert einerseits in Anspruch nahm, eine Rekonstruktion zu entwickeln, dass er andererseits aber betonte, ein individuell schützenswertes Werk geschaffen zu haben, ist ein Widerspruch. Aber dieser Widerspruch ist bis heute das Grundproblem der Opernregie: Eine gute Inszenierung sollte einerseits schöpferisch und eigenständig sein, andererseits dem »Geist« des inszenierten Werkes entsprechen – wie auch immer der zu bestimmen sein soll.

Der eingangs zitierte Walther Brügmann, der ab 1924 als Regisseur in Leipzig wirkte, musste sich den Vorwurf, gegen den »Geist« des Werkes zu arbeiten, häufig anhören. Dies hatte jedoch nicht allein künstlerische Gründe. Gemeinsam mit dem Dirigenten Gustav Brecher brachte er bedeutende Uraufführungen wie Ernst Kreneks »Jonny spielt auf« oder Kurt Weills »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« auf die Bühne. Die musikalische Modernität, aber auch die politische Ausrichtung dieser Werke waren für Konservative und Nationalsozialisten eine Provokation. Während der Wirkungszeit von Brecher und Brügmann entwickelten sich erhebliche Feindschaften, die sich auch auf die Rezeption von Neuinszenierungen älterer Werke auswirkten. Der wegen seiner jüdischen Abstammung zusätzlich angefeindete Gustav Brecher bezahlte den Konflikt später mit seinem Leben: Wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung verlor er seinen Posten, 1940 starb er auf der Flucht vor den Nazis unter nicht genau bekannten Umständen.

Walther Brügmann war eine Art Gegenmodell zu Ernst Lert. Die genaue Analyse der Partitur war seine Sache nicht (er konnte keine Noten lesen), aber als ideenreicher, humorvoller und intelligenter Regisseur, der das Ensemble zu ungeahnten darstellerischen Leistungen motivierte, wurde er geschätzt und überregional beachtet. Er war ausgebildeter Schauspieler und forderte vor allem eine glaubwürdige, lebendige Darstellung; die Sänger sollten sich vollständig in ihre Rolle einfühlen. Allem, was modern war, stand er aufgeschlossen gegenüber. Für die Uraufführung von »Jonny spielt auf« integrierte er sogar Filmsequenzen in die Inszenierung.

Der Schwan war ein Politikum.

Besonders heftig wurde über Brügmanns Wagner-Inszenierungen gestritten. Schon vor der Premiere des »Lohengrin« 1930 sorgte das Gerücht für Aufregung, Brügmann würde einen »Lohengrin« ohne Schwan herausbringen. Dabei war Brügmann keineswegs der erste Regisseur, der auf den Schwan verzichtete. Ein konservativer Kritiker gab sich entsprechend abgeklärt und betonte, der fehlende Schwan an sich störe ihn nicht. Trotzdem nimmt die Diskussion des Lohengrin-Auftritts mehr als ein Drittel seines Textes in Anspruch: »Es lässt sich sehr wohl eine Inszenierung denken, bei der alle Erregung des Volkes und Lohengrins Auftritt, ja selbst sein ›Nun sei bedankt‹ mit aller nur denkbarer Illusionskraft deutlich und möglich sein könnte, auch ohne dass Bühnenarbeiter ein Inventarstück des naturkundlichen Museums über die Bühne ruckeln. Aber was tut Brügmann? Er mutet dem Publikum zu, dass es – den Orchesterraum als die Schelde ansehen soll! Chor und Solisten bauen sich vor der Rampe auf und starren fasziniert auf die Lockenköpfe beziehungsweise Glatzen des Orchesters, während eine unmögliche Lichtgaukelei den Schwan verkörpern soll.«

Nach Gustav Brechers Hinauswurf 1933 war es eine der ersten Aktionen seines Nachfolgers, den Schwan wieder einzuführen, und die nationalsozialistische Presse bewertete diese Maßnahme als Sieg. Doch eigentlich ging es nicht um den Schwan, um Tradition oder die Schelde im Orchestergraben. Brügmann und Brecher vertraten andere gesellschaftliche Ideale als das konservative und nationale Publikum, und mit Wagners Helden hatte der Regisseur tatsächlich seine Probleme. Er hielt »das Überlebensgroße, Heldische« schlicht für überholt. In einem Interview auf den »Ring« angesprochen gab er allerdings zu, dass er schon einmal über eine kapitalismuskritische Inszenierung nachgedacht hatte. So etwas erschien ihm aber nicht umsetzbar: »Ich möchte wissen, was man dazu sagen würde, wenn wir aus den Göttern Industriebarone und Junker machen würden und aus den Schwarzalben Bergarbeiter oder geknechtete, ausgebeutete Proletarier.«

Brügmann konnte nicht ahnen, dass genau dies 42 Jahre später, im 1960 eröffneten neuen Leipziger Opernhaus realisiert wurde. Joachim Herz inszenierte dort Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« als eine Parabel auf die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts: »Der Ring bedeutet Methoden industrieller Fertigung, bedeutet eine phänomenale Wachstumsrate, die wuchernd emporschießt. Der Ring bedeutet den Sprung von der Agrar-Welt, von der Welt des Ackerbaus, der Naturalienwirtschaft und des Handwerks hinein in die Industriewelt. Dieser Sprung war nur zu bewältigen durch Verzicht auf Menschliches. Mit dieser sprunghaften Entwicklung war zwangsläufig Liebesverzicht verbunden, nur unmenschliche, liebelose Ausbeutung hat den Kapitalismus hochgebracht. Der Ring ist also keine Kostbarkeit und keine Waffe, sondern er ist ein Prinzip.«

Eine solche Interpretation lag schon seit einiger Zeit in der Luft. George Bernard Shaw hatte bereits 1898 festgestellt, dass das Nibelungenreich unter Alberich »eine poetische Vision des unregulierten industriellen Kapitalismus« sei. Aber Herz war der erste, der diese Interpretation konsequent umsetzte. Der zweite war Patrice Chéreau, dessen »Jahrhundertring« unmittelbar nach Abschluss des Leipziger »Rings« in Bayreuth auf die Bühne kam.

Noch mehr als über den Klassenkampf auf der Bühne wäre Walther Brügmann wohl von der fast durchweg positiven Resonanz überrascht gewesen, die diese Aufführungen international erzielten. Sogar die International Herald Tribune empfahl allen Wagnerianern dringend die Reise nach Leipzig.

Dem Vorwurf, Richard Wagners Werk für die eigenen Vorstellungen zu »missbrauchen«, wollte sich das Inszenierungsteam nicht aussetzen. Regisseur Joachim Herz, Bühnenbildner Rudolf Heinrich und Dramaturg Christoph Hamm gaben sich große Mühe, ihre Interpretation schon vor der Premiere mit Wagner-Zitaten zu rechtfertigen. Vollständig konnte diese Rechtfertigung nicht gelingen, dazu war Wagner in seiner eigenen politischen Auffassung viel zu widersprüchlich. In der öffentlichen Diskussion war das aber kein großes Problem mehr. Im Jahrbuch der Zeitschrift »Opernwelt«, in dem das »Rheingold« als ein Höhepunkt der Saison besprochen wird, heißt es dazu: »Wir sind freilich der Meinung, dass jede Wagner-Interpretation (also auch die Leipziger) immer nur einen Teilaspekt des widerspruchsvollen, ›zerrissenen‹ Genies offenbart. Dass Wagner auf den Originaltitel seines ›Ring‹ mit großen Lettern schrieb: ›Im Vertrauen auf den deutschen Geist entworfen und zum Ruhme seines erhabenen Wohltäters des Königs Ludwig II von Bayern vollendet‹ – das sei in Leipzig vergessen. Herz und Heinrich bringen das Kunststück fertig, dass wir’s vergessen.«

In der großen überregionalen Begeisterung zeigte sich die Leipziger Presse ein wenig reservierter. Wieder einmal waren es Fragen der politischen Gesinnung, die hier zum Tragen kamen. Der Kritiker der Leipziger Volkszeitung monierte, dass die Riesen Fasolt und Fafner als Vertreter der Arbeiterklasse nicht sympathisch genug dargestellt waren – und übersah dabei, dass Herz sie als Groß-Agrarier oder Zunftvertreter interpretierte. Solche politische Borniertheit erscheint heute lächerlich, aber sie war wohl dafür verantwortlich, dass ähnliche Inszenierungs-Geniestreiche immer schwieriger wurden. In seinem Erfolg und seiner Strahlkraft blieb der »Ring« einzigartig unter den Leipziger Regiearbeiten. Die einzige Opernregie aus der DDR-Zeit, die eine wenigstens vergleichbare Aufmerksamkeit erzielte, war Peter Konwitschnys erste Leipziger Inszenierung, »Der Waffenschmied«. Politisch stand diese Arbeit eigentlich auf der »richtigen« Seite, und doch wäre die Premiere 1986 beinahe geplatzt, weil Generalintendant und SED-Funktionär Karl Kayser meinte, eine Verherrlichung des Imperialismus zu erkennen, obwohl das Gegenteil intendiert war. Die Brisanz der Inszenierung lag jedoch ganz woanders. Konwitschny nahm Lortzings Spieloper ernst. So ernst, dass manche Kritiker sich hilflos fragten, wo denn das »herrlich Naive« dieses Werkes geblieben sei. In ihrem Ansatz ähnelte die Inszenierung durchaus dem »Ring« der 70er Jahre, denn auch Konwitschny machte aus der Oper eine Parabel auf die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts. Er zeigte, wie sich aus der kleinen Waffenschmiede im Zuge der Industrialisierung ein mächtiger Rüstungsbetrieb entwickeln konnte.

Die Aufführung entfaltete trotz den geforderten Änderungen politische Wirkung: Wenige Jahre vor dem Mauerfall führte der (originale) Text »Es ist ein Aufstand zu befürchten« zu Heiterkeit und vorsichtigem Applaus im Saal.

Nach der Wende profilierte sich das Leipziger Opernhaus vor allem durch Uraufführungen, weniger durch Inszenierungen. Auch den begehrten Titel »Opernhaus des Jahres« erhielt Leipzig 1993 vor allem für sein großes Engagement für neue Werke. Trotzdem sind einige bemerkenswerte Inszenierungen zu verzeichnen: Mussorgskis »Boris Godunow« durch den Hollywood-Regisseur István Szabo beispielsweise oder Andrea Breths erste Opernarbeit, Glucks »Orfeo ed Euridice«.

Es hat sich viel verändert seit den ersten umstrittenen Leipziger Operninszenierungen: Ernst Lert hatte seine Arbeit noch als Rekonstruktion der Uraufführung beschrieben; Walther Brügmann sah es als seine Aufgabe, die Vorzüge eines Werkes zu präsentieren; das Team um Joachim Herz hatte seine Interpretation mit umfangreichen Zitaten des Revolutionärs Wagner gerechtfertigt. Inzwischen ist die Auffassung fest etabliert, dass eine Inszenierung immer nur einen Aspekt des Werkes zeigen kann. Und ein Regisseur wie Peter Konwitschny ordnet sich längst nicht mehr als »schlichter Diener am Werk« ein. Selbstbewusst findet er: »Unsere Aufgabe ist es, bestimmte wichtige Fragen so zu stellen, dass darüber diskutiert wird. Die Stücke sind das Material dazu, sie sind kein Selbstzweck.«

Doch man lasse sich von den Selbstaussagen der Regisseurinnen und Regisseure nicht täuschen. Die Frechen unter ihnen entfernen sich nicht unbedingt weiter vom Werk als die zurückhaltend Auftretenden, und wenn man es recht überlegt, ist der Anspruch, den »Geist« des Werkes zu inszenieren oder die Uraufführung zu rekonstruieren, auch nicht gerade bescheiden. Walther Brügmann wäre wohl erstaunt über die Information, dass 80 Jahre nach seinem »Lohengrin« ohne Schwan sogar ein »Lohengrin« in der Schulklasse möglich ist. Wie umgekehrt die Inszenierungen von Ernst Lert, Walther Brügmann oder Joachim Herz heute auf uns wirken würden, ist nicht zu sagen. Nur Fotos, ein paar Kritiken, Notizen und Berichte der Mitwirkenden sind erhalten. Vermutlich hätten die Aufführungen uns nur noch wenig zu sagen außer: »Es gibt auch beim Theater Dinge, die nur schön in der Erinnerung sind.« Dass Regie sich nur begrenzt konservieren lässt, sondern jede Oper immer neu vergegenwärtigt werden muss, macht die Sache so schwierig, so strittig und so reizvoll.


© Ann-Christine Mecke 2010 | erschienen im Gewandhausmagazin 68 (September 2010)

Beitragsbild: Un cygne tuberculé. (Cygnus color) von Sanchezn (diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland“ lizenziert.)