Radikal individuell: Die Liedersängerin aus Connewitz

Es war eine Aktion gegen den „Systemrundfunk“, wie ihn die Nationalsozialisten nannten: 1933 wurden insgesamt neun Rundfunkdirektoren der großen Radioanstalten verhaftet, 1934 wurden sie wegen Korruption angeklagt, aber das eigentliche, wenn auch nicht justiziable „Verbrechen“ bestand darin, die Nazis vor 1933 nicht unterstützt zu haben. Juristisch waren die Vorwürfe kaum zu halten, und auch Fritz Kohl, der kaufmännischen Direktor der Mitteldeutsche Rundfunk AG – Gesellschaft für drahtlose Unterhaltung und Belehrung Leipzig, wurde schließlich freigesprochen. Die Folgen für den deutschen Rundfunk waren trotzdem erheblich. Darüber hinaus führte die Verhaftung von Fritz Kohl dazu, dass seine Frau, die weltberühmte Sängerin Elena Gerhardt ihre Heimatstadt verließ und ihre Lehrtätigkeit in England fortsetzte. Wie es wohl ihre Art war, entschied sie schnell: Sie kündigte die gemeinsame Wohnung ohne Rücksprache mit ihrem Mann und plante die gemeinsame Auswanderung: „Nachdem er wieder nach Hause gekommen war, verblüffte ihn meine Entscheidung zunächst, aber schon bald wusste er, dass ich richtig gehandelt hatte“ schreibt sie in ihrer 1951 erstmals erschienenen Autobiographie, die Jutta Raab Hansen 2011 sorgfältig übersetzt und mit informativen Anmerkungen versehen hat. Wieviele Tränen und wieviel Streit verbergen sich hinter diesem lakonischen Satz? Wir wissen es nicht. Die Auswanderung war für das Ehepaar mit erheblichen finanziellen Verlust verbunden, denn mehr als 100 Mark durften die beiden nicht mitnehmen. „Zum zweiten Mal hatten wir alles verloren: zuerst durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg und nun wegen des nationalsozialistischen Regimes“.

Entscheidung fürs Lied

Dennoch war der Verlust für das Leipziger Konservatorium wohl härter als für die Sängerin selbst. Während die Hochschule eine renommierte Lehrerpersönlichkeit verlor, fand Elena Gerhard sich schnell in London zurecht: Sie kannte die Stand bereits von Konzertreisen, hatte Freunde, die sie unterstützten, und fand bald neue Schülerinnen und Schüler – an Konzerteinladungen mangelte es ihr ohnehin nicht. Auch über Geschäftssinn verfügte sie offenbar: Als mit dem Kriegsbeginn das Unterrichten schwierig wurde und keine Konzerte in deutscher Sprache mehr möglich waren, organisierte sie sich eine Schallplattenaufnahme. Ihr Mann, der ehemalige Verwaltungsdirektor, zögert wegen des finanziellen Risikos. Elena Gerhardt rechnet kühl die Anzahl der nötigen Subskribenten aus und besorgte das erforderliche Kapital. Liest man die Autobiographie, kann man über Pragmatismus und Optimismus dieser Frau nur staunen. Sie selbst nennt eine robuste Gesundheit als glücklichem Umstand, der ihre Karriere ermöglichte. Auch mit einer robusten Psyche war sie offenbar gesegnet, so dass sie Rückschläge gut verkraftete und einmal getroffene Entscheidungen nicht bereute.

Bis 1933 aber gab es wenig Rückschläge, dabei ging Elena Gerhardt einen ungewöhnlichen Weg: Sie sang beinahe ausschließlich deutsche Kunstlieder. Nach einer Kindheit im damaligen Leipziger Vorort Connewitz und in Leipzig wurde sie 1899 im Alter von noch nicht ganz 16 Jahren im Leipziger Konservatorium aufgenommen. Dreieinhalb Jahre später verließ sie die Hochschule mit „zwei Dutzend Konzert-Engagements in der Saison 1903/1904“. Damit galt Elena Gerhardt in ihrer Familie übrigens als Bummelstudentin, ihr Vater hatte zwei Jahre Ausbildungszeit für angemessen gehalten. Maßgeblich und ausdauernd von dem damaligen Gewandhausdirektor Arthur Nikisch gefördert, gelang ihr problemlos der Einstieg in die Freiberuflichkeit. Ihren ersten Liederabend gab sie noch während ihres Studiums im Leipziger Städtischen Kaufhaus. Ein kurzes Zwischenspiel an der Leipziger Oper, die damals Neues Theater Leipzig hieß, führte zu der Entscheidung, sich aufs Lied-Repertoire zu konzentrieren. Genug Konzerteinladungen dafür gab es, und so brachte Elena Gerhardt das deutsche Kunstlied nach England, Frankreich, Russland, Spanien und in die USA; sie sang für die englische Königin, ein paar Jahre später für die russische Zarenfamilie; im Alter von 46 Jahren wurde sie Lehrerin an ihrer ehemaligen Hochschule.

Kaum ein böses Wort

Beinahe zu glatt erscheint das alles: Konzertreisen, Geld, Kaviar, Geschenke, Schallplattenaufnahmen, Gesangsschüler. Elena Gerhardt schreibt selbstbewusst und bleibt dabei sachlich und höflich. Kaum ein böser Satz findet sich in dem Buch, sogar für Konkurrentinnen findet die Sängerin verbindliche Worte, und selbst aus schlechten Kritiken könne man etwas lernen, meint sie. Geheimnisse aus den Künstlergarderoben, Sentimentalitäten oder provokante Ansichten sucht man in diesen Memoiren vergeblich. Dabei würde man doch gerne wissen, mit welchen Selbstzweifeln und Ängsten der Entschluss, ausschließlich Liedersängerin zu werden, verbunden war. Für diesen Lebensplan gab es keine Vorbilder, zumal Liederabende um 1900 normalerweise mit einem gemischten Programm dargeboten wurden, nicht ausschließlich mit Kunstliedern. Nicht einmal drei Seiten widmet Elena Gerhardt ihrer kurzen und wohl unglücklichen Zeit als Opernsängerin; sie erzählt von einer Probe, in der der Arthur Nikisch sie aufforderte, mehr Stimme zu geben. Aus Trotz, behauptet die Sängerin, sang sie nur minimal lauter. Vielleicht war es diese Probe, in der ihr klar wurde, dass ihre Stimme „nicht kraftvoll und ihr Umfang nicht groß genug waren, um ernsthaft dramatische Rollen zu singen.“ Nur vier Vorstellungen sang sie als Mignon in Abroise Thomas‘ gleichnamiger Oper und als Charlotte in Jules Massenets Werther. Anscheinend entschied sie sich ebenso wie später bei der Emigration: schnell und ohne Reue.

Mut und Entschiedenheit sind auch Charakteristika ihrer Interpretationen: Elena Gerhardt gibt jedem Lied eine radikal individuelle Ausdeutung. Das Ausmaß, in dem sie mit Verzögerungen und Beschleunigungen arbeitet, erscheint uns heute pathetisch. Doch selbst wenn man den ästhetischen Wandel in Betracht zieht, den der Liedgesang in den vergangenen 100 Jahren durchgemacht hat, sind Gerhardts dokumentierte Interpretationen eigenwillig: Für Franz Schuberts „An die Musik“, von anderen Sängerinnen und Sängern in 2 ½ Minuten vorgetragen, braucht sie 4 Minuten. Es wäre wohl noch länger, wenn ihr Klavierpartner Arthur Nikisch sich nicht erlauben würde, in den kurzen Zwischenspielen das Tempo etwas anzuziehen. Doch selbst in solch extremen Interpretationen ist Gerhardts Gesang nicht manieriert, nicht auf Originalität bedacht, sondern allein am gewünschten Ausdruck orientiert. Vor allem die Vielfalt ihrer Stimmfarben und deren entschiedener Einsatz beeindrucken noch heute, trotz der beschränkten Aufnahmequalität. Der Sängerspezialist Michael Scott vermutet, sie habe durch ihre „dramatisierende“ Singweise die Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Publikum überwunden – Elena Gerhardt sang immerhin in Originalsprache, und deutsche Kunstlieder waren einem amerikanischen, englischen oder französischen Publikum eher fremd. Mit ihren intensiven Interpretationen gelang es der Leipziger Künstlerin über zwei Weltkriege hinweg, beinahe unbeeinträchtigt von Ressentiments gegenüber deutschen Staatsbürgern und kriegsbedingen Einschränkungen ein Repertoire zu pflegen, das heute selbst in Deutschland als schwer zu vermitteln gilt. „Kein anderer Liedersänger in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts macht auf das Publikum in England und in den USA einen solchen Eindruck,“ schrieb der Pianist Gerald Moore, der über zwanzig Jahre lang ihr künstlerischer Partner war.

In ihrer Zeit nicht nötig

Die Sängerin selbst war sich der vielen günstigen Umstände, die ihre Karriere erleichterten, durchaus bewusst. Neben ihrer stabilen Gesundheit nennt sie die Förderung durch Nikisch als solche Glücksfälle, ohne es zuzulassen, dass ihr Erfolg darauf reduziert werden könnte: „Ich musste seinen Prinzipien gerecht werden und kontinuierlich in jeder Hinsicht Fortschritte erzielen. Andernfalls würde sein Interesse bald nachgelassen haben und irgendwann verschwunden sein.“

Dass eine Karriere als exklusive Liedersängerin bereits nicht mehr möglich gewesen wäre, als sie ihre Autobiographie schrieb, war Gerhardt bewusst: „Ich denke oft, wie glücklich ich war, meine Laufbahn am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen zu haben, und meine öffentliche Anerkennung noch vor dem Ersten Weltkrieg auszubauen, als es noch keine Kinos, Radio oder Fernsehen gab. Heute müssen junge Sänger in der Lage sein, alles zu machen, von Pantomime, musikalischer Komödie bis Oper, Oratorium und Konzerten, nur weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. In der Zeit meines Debüts war das nicht nötig.“


© Ann-Christine Mecke 2015 | erschienen im Gewandhausmagazin 86 (März 2015)