Wenn der Stimmumfang kleiner und das Vibrato größer wird …

Sängerinnen und Sänger im Seniorenalter haben nicht gerade einen guten Ruf. Selbst wenn sie als geübte Chormitglieder die gängigen Werke in- und auswendig kennen, ihre Stimmgruppe stets mit Noten versorgen und dazu noch den Chorstammtisch organisieren – ein hoher Anteil »alter Stimmen« gilt als Mangel eines Chores. Professionelle Solosängerinnen in gereiftem Alter bekommt man entweder gar nicht zu hören, oder sie gelten als abgesungene Diven, die den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpasst haben. Für Männer sieht es zwar etwas besser aus, doch scheint auch ihre Stimme mit dem Alter zu verblassen, angestrengter oder unsicherer zu werden.
Tatsächlich verändert der Alterungsprozess den Klang und die Leistungsfähigkeit der Stimme. Dies ist kein Zeichen schlechter Gesangstechnik – auch wenn sich manche Alterserscheinungen durch eine gute Technik ausgleichen lassen. Nicht jeder ist gleichermaßen von solchen Veränderungen betroffen, und doch ist der Zusammenhang so eng, dass Hörer das Alter eines Sprechers recht zuverlässig an der Stimme erkennen können. Man weiß auch, mit welchen Veränderungen zu rechnen ist und was der jeweilige Grund dafür ist.

Was nun folgt, wirkt wie ein Schreckensszenario. Es sei deshalb vorangeschickt, dass diese Veränderungen erstens nur allmählich und zweitens nicht unbedingt gleichzeitig und im gleichen Maße eintreten. Sehen wir also den Tatsachen so vorgewarnt ins Auge: Im Alter verlieren die Kehlkopfmuskeln – wie andere Muskeln im Körper auch – an Kraft und Volumen. Auch die Stimmlippen bestehen zum großen Teil aus einem Muskel. Durch den Volumenschwund (Atrophie genannt) werden sie dünner und schließen schlechter, vor allem in ihrer Mitte. Das Ergebnis: Immer dringt ein bisschen Luft durch die Stimmritze; die Stimme klingt behaucht. Außerdem können hohe Töne oder der Registerausgleich Probleme verursachen, weil weniger Muskelkraft zur Verfügung steht. Der Stimmumfang wird kleiner, weil die hohen Töne nicht mehr erreicht werden. Der Kehlkopf verliert an Elastizität und die Stimme damit an Agilität: Schnelles Singen und insbesondere Koloraturen werden zum Problem.
Auch die Vitalkapazität, das heißt die für die Atmung verwendete Lungenkapazität, nimmt ab: Lange Phrasen oder Töne können deshalb Schwierigkeiten machen. Da eine schwächere Atemmuskulatur zusätzlich den Luftdruck reduziert, den zu erzeugen das Atemsystem imstande ist, wird die Stimme kraftloser und leiser.
Auch im Rachen atrophiert das Gewebe, dadurch verändern sich die Resonanzverhältnisse und damit der Stimmklang. Die Resonanzbereiche, in denen Obertöne besonders verstärkt werden, sinken um circa 100 Hertz pro Lebensjahrzehnt ab. Dadurch wird das Timbre der Stimme etwas dunkler. Einschränkungen in der Artikulationsmuskulatur führen dazu, dass die Vokale einander ähnlicher werden. Intonationsprobleme können entstehen, weil die Rezeptoren in den Kehlkopfmuskeln, die während der Stimmgebung Informationen für die Feinabstimmung der Tonhöhe liefern, an Effizienz einbüßen. Hinzu kommt, dass auch die akustische Kontrolle der Stimme, das Gehör, im Alter nachlässt.

Wird denn im Alter immer nur alles schwächer? Nein: Das Vibrato gewinnt an Stärke. Der Umfang wächst, gleichzeitig sinkt die Vibratofrequenz. Das Vibrato wird also nicht nur größer, sondern auch langsamer. Das böse Schimpfwort »Quintenschleuder« hat hier seinen Ursprung. Das Vibrato erreicht zwar bei weitem nicht den Umfang einer Quinte, doch unser Ohr ist empfindlich für Abweichungen von der als angenehm empfundenen Vibratofrequenz und -amplitude. Nicht nur durch das Vibrato wird die Tonstabilität in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch im hochfrequenten Bereich. Jitter und Shimmer (zwei Maße, die angeben, wie ähnlich sich zwei benachbarte Schwingungszyklen der Stimmlippen sind) nehmen zu, die Stimme klingt deshalb rau und heiser, in schlimmen Fällen wird sie darüber hinaus wackelig.
Zur Vervollständigung der Schreckensvision sei noch erwähnt, dass auch Krankheiten, wie man sie häufiger oft in hohem Alter bekommt, Auswirkungen auf die Stimme haben können: Eine Lungenkrankheit macht auch beim Singen und Sprechen kurzatmiger, Parkinson lässt die Stimme zittern, fehlende Zähne beeinträchtigen die Artikulation.

Das Endstadium dieser Entwicklung ist die »Greisenstimme«: leise, heiser, wackelig und kurzatmig, zum Singen nur noch eingeschränkt zu gebrauchen. Bis dahin ist es natürlich ein weiter Weg! Erste Beeinträchtigungen erleben viele Senioren aber schon, wenn sie sich noch bei bester Gesundheit fühlen – oder noch nicht einmal Senioren sind. Frauen haben hier besonders schlechte Karten: Sie erleben den einschneidendsten Alterungsprozess nämlich schon mit der Menopause im Alter von circa 50 Jahren. Durch die hormonelle Umstellung werden die Stimmlippen etwas länger und dicker, was zu einer tieferen Stimme führt. Im Durchschnitt sinkt die Sprechstimmlage in dieser Lebensphase um 10 bis 15 Hertz, also ungefähr um einen Halb- oder Ganzton. Zusätzlich haben viele Frauen mit einer belegten und rauen Stimme zu kämpfen. Frauen machen in den Wechseljahren also eine Art zweiten Stimmwechsel durch. Für Laiensängerinnen wird es oft Zeit, vom Sopran in den Alt oder sogar vom Alt in den Tenor zu wechseln. Berufssängerinnen können in eine Krise geraten, die bei einem guten Ausgang in einen Fachwechsel mündet, die aber auch das Ende der Bühnenkarriere bedeuten kann. Die individuellen Unterschiede sind groß: Während manche ihre Tätigkeit als Sängerin beenden müssen, bemerken andere kaum eine Beeinträchtigung.
Bei Männern setzen die spürbaren Veränderungen meist später ein. Das hauptsächliche Problem bei ihnen ist der Gewebeschwund, außerdem Austrocknung und Versteifung des Kehlkopfgewebes. Da die Stimmlippen steifer werden, kommt es bei Männern eher zu einer Erhöhung der Sprechstimmlage. Vom mittleren Alter bis zum Greisenalter erhöht sich die Stimme um etwa 35 Hertz, was in der typischen Sprechstimmlage von Männern etwa eine große Terz ausmacht. Die Veränderung der Sprechstimmlage ist also größer als bei Frauen, geschieht aber weniger abrupt. Wenn die Stimme aufgrund der Instabilität ins Falsett kippt, klingt sie noch erheblich höher: der »Greisendiskant« ist erreicht.

Sollte man bei den ersten Anzeichen von Stimmalterung besser mit dem Singen aufhören? Im Gegenteil! Muskelabbau kann man mit Training verlangsamen oder vermindern. Das beste Rezept gegen eine vorzeitige »Greisenstimme« scheint also das Singen selbst zu sein. Ganz normales Ausdauertraining kann außerdem dazu beitragen, die Vitalkapazität im optimalen Bereich zu halten. Gesangsunterricht ist nützlich, um die Singtechnik an die neuen Bedingungen anzupassen. Gezieltes Stimmtraining ist auch das Mittel der Wahl, wenn die Sprechstimme altersbedingt nicht mehr so belastbar ist. Das wichtigste ist also, sich die Beeinträchtigungen einzugestehen, um dann daran arbeiten zu können.
Umstritten sind die invasiveren Methoden der Medizin. Eine manchmal als »Lifting für die Stimme« angepriesene operative Maßnahme besteht darin, das verlorengegangene Stimmlippengewebe durch eine injizierte Flüssigkeit zu ersetzen und so wieder einen guten Stimmlippenschluss herzustellen. Dies ist jedoch nur in schweren Fällen angezeigt, wirkt nur vorübergehend (bis die injizierte Flüssigkeit vom Körper absorbiert wurde) und ist darüber hinaus eine relativ grobe Methode, die nur wenig Wirkung auf die Feineinstellung der Singstimme hat. Für Berufssängerinnen mit Problemen in den Wechseljahren kommt unter Umständen auch eine Hormontherapie in Frage.

Gibt es also nur Probleme; kann man der alternden Stimme denn gar nichts abgewinnen? Doch. Laienchöre können von der tieferen Stimme älterer Frauen profitieren. Der Tenor ist schließlich chronisch unterbesetzt, und eine Untersuchung hat gezeigt, dass sich Frauen- und Männerstimmen im Tenor gut mischen und sich entgegen der gängigen Meinung klanglich hinreichend ähnlich sind. Leider werden ältere Männer meist keine Tenöre mehr, auch wenn ihre Sprechstimme sich erhöht – dies ist meistens nicht damit verbunden, dass hohe Gesangstöne hinzugewonnen werden.
Wer das Singen erst im höheren Alter für sich entdeckt oder wer seinen früheren Chor wegen der alternden Stimme verlassen muss, kann in einem Seniorenchor aktiv werden. Das klingt nach Volksliedern und Butterkuchen, doch auch Seniorenchöre gibt es in den unterschiedlichsten Sorten. Die einen verstehen unter »Seniorenchor«, dass die Ansprüche gesenkt werden und das Gemeinschaftserlebnis in den Vordergrund rückt. Auch auf manch nicht-stimmliches Zipperlein muss dabei zuweilen Rücksicht genommen werden: »Geprobt wird im Sitzen« oder »Noten werden im Großdruck zur Verfügung gestellt«, heißt es einladend auf den Internetseiten. Andere Chöre betonen die Wichtigkeit von Stimmbildung, Ehrgeiz und Repertoire-Erweiterung gegen das »Einrosten« von Geist und Stimme. Wieder andere sehen die Altersstimme nicht als Defizit, sondern als besonderes Ausdrucksmittel, das es zu entdecken gilt. Auch im Repertoire bestehen erhebliche Unterschiede: Nicht jeder Seniorenchor singt deutsches Liedgut – manche vergeben Kompositionsaufträge, um Werke singen zu können, die zu den »lebenserfahrenen« Stimmen der Chormitglieder passen. Wieder andere Senioren schmettern Pop- und Rocksongs. Texte, die das Alter thematisieren oder sich zumindest so verstehen lassen, zum Beispiel »Talking ’bout my generation« oder »Time of my Life« erfreuen sich dabei besonderer Beliebtheit. Ensembles wie der »Young@Heart Chorus« aus den USA oder die britischen »The Zimmers« (benannt nach dem englischen Ausdruck für Gehwagen) haben es mit dieser Strategie zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Nicht zuletzt, weil eine raue, hauchige oder wackelige Stimme auch ein Markenzeichen sein kann, solange sie nur selbstbewusst und ausdrucksstark benutzt wird.


© Ann-Christine Mecke 2013 | erschienen im Gewandhausmagazin 78 (März 2013)